TITEL

Siegessäule-Titelthema: „Alles außer gewöhnlich“ - Queers mit Handicap

4. Nov. 2013
Heiko Mersch, Foto: Robert M. / robertm.de

Jan Dimog über Sichtbarkeit und Sensibilisierung in der queeren Szene

London glühte. Hitze in der britischen Hauptstadt ist außergewöhnlich, aber es war eh ein Sommer mit besonderen Hauptdarstellern. Auf der großen Sportbühne traten Athletinnen und Athleten auf, die als Supermenschen und
Topsportler gefeiert wurden. London zelebrierte die Paralympics 2012 und begrüßte Beteiligte wie Besucherscharen aus aller Welt warmherzig, gastfreundlich, stolz. Ich war einer der vielen Zehntausend enthusiastischen Zuschauer, die Rollstuhlfahrer, Blinde und Amputierte bejubelten. Stellvertretend für alle Menschen mit Beeinträchtigungen erfuhr der Behindertensport bei diesen Paralympics eine selbstverständliche Akzeptanz wie selten zuvor. Ich frage mich aber, was passiert, wenn die Scheinwerfer ausgeschaltet sind, wenn der Alltag einsetzt und die Unterschiede zwischen Nichtbehinderung und Handicap wieder hervortreten? „Verschwinden“ die RollstuhlfahrerInnen, Blinden und Amputierten  in ihren Werkstätten und Einrichtungen?

So weit kommt es noch: Wider die Unsichtbarkeit! So mutete der erste Berliner „Disability & Mad Pride 2013“ an, zu dem letzten Sommer weit über 1.000 Menschen kamen, die diesem Aufruf gefolgt waren: „Freaks und Krüppel, Verrückte und Lahme, Kranke und Normalgestörte – kommt mit uns raus auf die Straße! Wir wollen eine Gesellschaft, die bereit ist, Barrieren abzubauen, statt Menschen als ‚krank‘, ‚gestört‘ und  ‚nicht normal‘ auszusortieren! So, wie wir sind, sind wir richtig!“ Sven Drebes, 38, einer der Mitorganisatoren und Referent für Behindertenpolitik bei der grünen Bundestagsfraktion, erklärt mir: „Ich war überrascht, wie viele gekommen sind, mit mehr als 1.000 hat kaum jemand von uns gerechnet. Die ausgelassene Stimmung war mitreißend, so etwas habe ich vorher bei keiner Demo von Menschen mit Behinderung erlebt. Wir wollten selbstbewusst zeigen, dass wir uns gegen Bevormundung wehren. Inklusion kann nur gelingen, wenn ‚wir‘ Menschen mit Behinderung selbstbewusst auftreten und unsere Forderungen nicht in einer ‚Bittsteller-Pose‘ vorbringen. Der nicht behinderten Gesellschaft wollten wir vermitteln, dass Mitleid fehl am Platz ist.“

„Das ist ja nett, dass man sich so um dich kümmert.“

Einige äußerten Missfallen am Begriff „Pride“. Ist eine Beeinträchtigung etwas, worauf man stolz sein kann? „Darüber hinaus stieß die provokante Sprache unseres Aufrufs, insbesondere der Begriff‚ Krüppel‘, auf Kritik“, so Drebes. Diesen Konflikt kennt auch Dr. Gesa Teichert, 38, erst recht, wenn man von „Krüppellesbe“ spricht. Das von der Psychologin und Aktivistin Cassandra Ruhm offensiv gebrauchte Wortkonstrukt sei „eine Provokation“, so Teichert. Es definiere aber einen negativ besetzten Ausdruck in eine Stärke um. „Wir wollten uns den Raum erobern, was ein schmerzhafter Prozess war. Vor vielen Jahren bei einem Lesben-Frühlingstreffen (LFT) gab es eine Situation, wo meine Freundin und ich uns küssten und eine im Vorbeigehen zu mir meinte: Das ist ja nett, dass man sich so um dich kümmert.“

An diesem Punkt unseres Gesprächs atmet Teichert tief ein. Beim Ausatmen hört sie sich an, als lasse sie die enttäuschenden Erfahrungen der Ausgrenzungen jener Jahre hinausströmen. „Seitdem hat sich viel getan. Es ist selbstverständlich geworden, bei den LFTs barrierearm zu sein. Beide Seiten haben sich angenähert, aber dazu mussten wir unsere Forderungen formulieren und sichtbar sein“, führt Teichert aus, die als Geschäftsführerin im Hildesheimer Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien (ZIF) arbeitet und am 28.11. im Rahmen des 1. LSBTI*-Wissenschaftskongresses einen Vortrag zum Thema „Lesben und Schwule mit Behinderung – Wo können vielfältige Identitäten eine Heimat finden?“ hält.

„Die Debatten um Diversity haben zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit beigetragen. Auch die Diskussionen um Wörter wie ,Krüppellesbe’ oder den Ausdruck ,Unterfähigkeit’, der vor einigen Jahren aufkam und der für mich ein verschleiernder Begriff ist, anders als das konfrontative Wort ,Krüppellesbe’. Natürlich ist Sprache wichtig, aber letztendlich kommt es darauf an, ob Rampen
an den Gebäuden vorhanden sind oder ob bei Veranstaltungen ein Gebärdensprachdolmetscher gestellt wird.“

2008 trat das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, kurz: BRK) in Kraft. In diesem finden sich viele Bestimmungen, die auf die Lebenssituation behinderter Menschen eingehen. Ein wichtiges Element ist die Inklusion. „Gemeinsam für eine Gesellschaft der Vielfalt“, so die „Aktion Mensch“ zum Begriff Inklusion. Alle Menschen sollen gleichberechtigt am Leben teilnehmen können – mit oder ohne Behinderung. Damit gemeinsames Lernen, Arbeiten, Wohnen und ein Leben ohne Barrieren selbstverständlich wird. Fünf Jahre danach ist man von dieser Selbstverständlichkeit weit entfernt, so Bilal Kir und Kay-Alexander Zepp, beide sind seit Jahren bei Lambda² engagiert. Lambda² ist eine offene Freizeitgruppe für jungendliche LSBTI* mit und ohne Handicap. Es gebe zwar Unterstützung, so die beiden, aber am Ende stehe und falle vieles mit dem Geld und dem Bewusstsein der nicht behinderten Mehrheitshomogesellschaft …
Jan Dimog


Zum Weiterlesen: Vollständiger Text in der Printausgabe Siegessäule November 2013. Hier geht es zur Suchfunktion für die Siegessäule-Auslagestellen

Siegessäule präsentiert:

„No Limits“, internationales Theaterfestival, 07.–17.11., HAU, F 40, Theater Thikwa, Ballhaus Ost, Theater RambaZamba, Kesselhaus der Kulturbrauerei, no-limits-festival.de


Weitere Informationen

Landesstelle für Gleichbehandlung –
gegen Diskriminierung: berlin.de/lb/ads

Lambda²: lambda-bb.de

Rad und Tat – Offene Initiative Lesbischer Frauen e. V.: lesbischeinitiativerut.de
Pride Parade: pride-parade.de

Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien (ZIF):
hawk-hhg.de/zif

GLADT und der Szene-Guide „Barriere(nfreiheit) in queeren Szenen“: diskriminierungsfreieszenenfueralle.wordpress.com

Offener Treff Queerhandicap Berlin (1. Donnerstag im Monat) und Disco on Wheels (2. Sonntag im Monat) im Südblock: suedblock.org

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