Siegessäule.de 2013 – Jahresrückblick anhand von online-Debatten

30. Dez. 2013
Schau uns in die Augen, 2013 (c) dpa picture alliance

ISV - Gleichstellung als Wahlkampfente - Homoehe – Enough is Enough –Homolobby - Queer versus Homo – 2013 wurde leidenschaftlich gestritten

Dauerbrenner 2013 war die ISV – die handliche Abkürzung steht für die Berliner „Initiative für Sexuelle Vielfalt“ – eine Bündelung vieler größerer und kleinerer Projekte, die Berlins Herz für Schwule, Lesben und Trans* aufnahmefähiger machen sollte. Dass etwas queere Herzensaufklärung gut ist, darin bestand Einigkeit – sogar der SPD-CDU-Senat hatte sich den Bestandsschutz und Ausbau der Initiative in den Koalitionsvertrag geschrieben. Die Realität jenseits des geduldigen Koalitionspapieres sah dann anders aus: Zwei Drittel der Mittel wollte der Senat der ISV streichen, von 250.000 auf 100.000 herunter. Queere Initiativen protestierten monatelang, queere Medien berichteten monatelang und der schwule Berliner SPD-Häuptling Wowereit brummte gegenüber Siegessaeule.de, dass da noch was gehen müsse. Am Ende ging's und die Kürzungen wurden in allerletzter Sekunde zurückgenommen.

Etwas zu meckern gab es dann doch noch: Auf siegessaeule.de beschwerten sich SPD-AnhängerInnen, die Siegessäule hätte den Erfolg zu einseitig der grünen Opposition zugeschrieben, namentlich Thomas Birk und Anja Kofbinger. Diese waren auf fast jeder Demo gegen die Kürzungen und daher häufig auf siegessaeule.de zu sehen. Doch die eigentliche Arbeit hätte die SPD hinter den Kulissen in Geheimverhandlungen geführt, beschwerten sich die GenossInnen nachträglich. Liebe GenossInnen: Politik zur Geheimwissenschaft zu machen, ist eben nicht sehr öffentlichkeitsförderlich. Und Behauptungen im Nachhinein mit Selbstschmeichelfaktor – das steigert die Glaubwürdigkeit so wenig wie die Enthaltung der Regierungs-SPD, als Berlin im März im Bundesrat für ein Eheöffnungsgesetz hätte stimmen können. Hätte, wollen würde – die SPD ist in Sachen Politik für LSBTI im dauerhaften verpasste-Chancen-Modus – womit wir beim nächsten großen Thema 2013 wären: der großen Koalition.

Gleichstellung als Wahlkampfente der SPD – die CDU verharrt im Gestern

Der SPD-Wahlkampf startete im Sommer queer durch, Spitzenkandidat Peer Steinbrück ließ sich auf dem Berliner CSD blicken und trompetete artig den Slogan „100 Prozent Gleichstellung nur mit uns“. Und auch wenn Steinbrück dabei angestrengt aussah wie in einer unangenehmen Abiturprüfung – seine Partei schien es ernst zu meinen. Die große Koalition galt schon vor der Wahl als wahrscheinlich und die SPD zeigte sich in Gleichstellungsfragen wild entschlossen. Mit Merkel hätte dann auch eine Koalitionspartnerin bereitgestanden, die schon einmal ihre 180-Grad-Drehbarkeit bewiesen hatte, beim Atomausstieg nach der Fukushima-Reaktorkatastrophe. Doch, wie schon von der Berliner SPD im Bundesrat vorgemacht, unterwarf sich die SPD bei der Queer-Politik den neuen schwarzen Freunden.

Von der CDU war nicht mehr zu erwarten – zu deutlich hatte sie 2013 gemacht, dass die „schrille Minderheit“ (Dobrindt, jetzt Verkehrsminister) für sie nicht zur Familie gehört. Jeder und jede durfte mal giften, Katherina Reiche (jetzt Dobrindts Staatministerin) bei Günter Jauch, Erika Steinbach im Bundestag, Volker Kauder in Interviews. Doch es gab bei der CDU auch andere Töne – Wolfgang Schäuble mahnte in der Gleichstellungsdebatte an, man müsse „veränderte Realitäten zur Kenntnis nehmen“ und Michael Grosse-Brömer, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, drängte darauf, die Vorgaben aus Karlsruhe schnell umzusetzen.

Auch das war 2013: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe machte deutlich, dass nur die völlige Gleichstellung verfassungskonform wäre. Das Ergebnis ist bekannt: Merkels Bauchgefühl setzte im Koalitionsvertrag eine Nicht-Gleichstellung durch, und die SPD war nicht mutig genug, den Verstand einzuschalten und genügend Druck aufzubauen (Bericht und UserInnen-Kommentare hier)

Homoehe: nichts als Hetero-Abklatsch? 

Zur Diskussion über die Homo-Ehe hatte im März das Berliner Magazin Exberliner eingeladen, auf der Bühne diskutierten unter anderen Mads Lodahl und ich. Mads ist ein zeitweise in Berlin lebender Queer-Aktivist aus Dänemark, und er sieht in der Homo-Ehe einen Ableger dessen, was er die „heteronormative Weltordnung“ nennt. Kurz zusammengefasst: Die Homoehe ist nicht wünschenswert, weil sie für queere AsylantInnen keine Verbesserungen bringt, die queere Outlaw-Geschichte vergisst und LSBTI ihr Anderssein gegen heteronormative Unsichtbarkeit und Langeweile eintauscht. Meine Position war anmoderiert als „Man kann nur Rechte ablehnen, die man hat“, – und ich möchte die Selbstverständlichkeit, keine Sonderrechte zu haben, sondern gleiche Rechte. Die kann man dann auch für sich ablehnen. Die Chefredakteurin vom Exberliner erzählte während der Diskussion, wie ihre Tochter einen Wutanfall bekam, als sie realisierte, dass Schwule nicht heiraten dürfen. Wäre es nicht hilfreich, wenn die Youngsters in dem Bewusstsein aufwüchsen, dass LSBTI alles dürfen, was andere auch dürfen?

Enough is Enough: Modepose oder Solidarität?

Der szeneinterne Streit um die richtige politische Haltung ist so alt wie die Szene selbst – und taucht verlässlich immer wieder auf, etwa auch bei „Enough is Enough“ im September. Sieben Privatpersonen hatten in Berlin zur Demo gegen das russische Gesetz gegen „Homopropaganda“ aufgerufen, und etwa 7.000 kamen. Grund für weitere, hochmoralische Diskussionen innerhalb der Community: Ist die Russland-Solidarität nichts weiter als eine hohle Modepose? Ganz sicher stellt sich die Frage, warum LSBTI-Verfolgungen in Russland hierzulande Massen mobilisieren, gleiche oder schlimmere Nachrichten aus anderen Teilen Welt das aber nicht vermögen. Aber ist es nicht grundsätzlich erst einmal etwas sehr Positives, wenn 7.000 BerlinerInnen ihren Hintern in Bewegung setzen und sich solidarisch zeigen? (Bericht und UserInnen-Kommentare hier)

„Schlagkräftige Homolobby“ – ja bitte oder nein bloß nicht? 

„Wir brauchen eine schlagkräftige Homolobby“ – mit dieser These eröffnete David Berger, Chefredakteur der Männer, im November eine weitere große Diskussion (hier). Es ging um die Frage, ob das Scheitern der Gleichstellung auf politischer Ebene nicht Ausdruck eines zu schwachen Organisationsgrades sei. Berger kritisierte dabei auch Verbände wie den LSVD, dieser sei bereits zu abhängig von den Futtertrögen der Parteien und damit kaum noch durchsetzungsfähig. Micha Schulze von queer.de verteidigte darauf den LSVD und auf siegessäule.de antwortete Dirk Ludigs, ehemaliger Chefredakteur der DU&ICH, eher amüsiert als überzeugt von der „Homo-Lobby“: „Vor meinem inneren Auge marschieren schon die muskelbepackten Pinkhemden mit Regenbogenfahnen und Wunderkerzen bewaffnet in Glitzerstiefeln durchs Brandenburger Tor und stellen sich breitbeinig vor der CDU-Zentrale auf. Und das ist natürlich nur der militärische Arm!“ Hinzu kommen die „kleinen, verschwiegenen Maulwurf-Homos, die bei Nacht und Nebel durch die dunklen Flure huschen und schwulenpolitische Textbausteine in die Koalitionspapiere kopieren“ …

Wenn man beiseite lässt, ob die Homo-Ehe überhaupt wünschenswert sei – dann stellt sich schon die Frage: Warum sind wir so machtlos? Wie kann es sein, dass große Parteien (SPD, Grüne, DieLinke), auch als VertreterInnen des BürgerInnenwillens, gemeinsam als Mehrheit für die Gleichstellung sind (Bericht und UserInnen-Kommentare hier) – sie aber einfach nicht kommt?

Queer versus Homo – Fundi gegen Realo?

In 2013 standen zwei „Denk-Lager“ gegeneinander – wie beim CSD, wie bei der Homo-Ehe, wie bei Enough is Enough . Das Queer-Lager ist im Grunde geprägt durch eine gesamtgesellschaftlich-kritische Haltung, Politik für LSBTI wird verknüpft mit einer grundsätzlichen Kritik am Staat, was zum Beispiel HartzIV-Arbeitsmarkt-Politik oder auch Asyl- und Flüchtlingsfragen betrifft. Es ist eigentlich eine Haltung, die sich grundoppositionell, systemkritisch versteht. Das andere Lager sei der Einfachheit halber Homo-Lager genannt; Homo-Ehe, Homo-Lobby, Homo-Rechte – das Präfix „Homo“ hat in 2013 Karriere gemacht. Das Homo-Lager hat sich eingerichtet im System, und es fokussiert sich auf die Rechte für Homosexuelle. Beide Lager sind sich nicht sehr grün: „Spießig, kleinbürgerlich, vom heteronormativen Mainstream träumend“ finden die Queer-Aktivisten das Homo-Lager. Die Homo-Fraktion wiederum bekrittelt die Queers mit: revolutionär als Pose, realitätsfern, gutmenschelnd und zu jeder Tageszeit unendlich betroffen.

Debatte ist gut und Debatte ist wichtig! Aber Fundis versus Realos ist ein Politikrelikt aus den 90ern des letzten Jahrhunderts: Das Queer-Lager läuft Gefahr, für Schwule und Lesben unglaubwürdig zu werden, weil diese ihre Forderungen ständig durch die Utopie vom Weltfrieden reduziert und belächelt sehen. Das Homo-Lager läuft Gefahr, manipuliert durch den nachvollziehbaren, aber etwas naiven Wunsch nach Normalität, vor lauter Überanpassung tatsächlich zu so etwas wie einer Satire auf Heterosexuelle zu werden – wir zeigen den Heteros, wie normal wir sind, dann werden sie uns schon liebhaben. Damit sind die Schwulen und Lesben in der Union erst einmal auf der Nase gelandet – gemessen am Ziel der Gleichstellung.

Das wäre der fromme Wunsch für 2014: Mal den Grabenkampf im Graben lassen und sehen, dass die je andere Seite nicht nur aus ausgemachten Vollidioten besteht!
Christian Mentz

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