Interview mit Merle Groneweg und Sarnt Utachamote

„Abseits des LGBT-Mainstreams“: Das 16. Xposed Queer Film Festival Berlin

24. Mai 2022 Annabelle Georgen
Bild: Colleen Mc Shea
Auch bei Xposed zu sehen: Die Dokumentation „Shinjuku Boys“ aus den 90er-Jahren über Kazuki, Tatsu und Gaish, die im New Marilyn Club in Tokio arbeiten

Nach zwei Jahren Pandemie kehrt das queere Filmfestival Xposed in die Kinosäle zurück. SIEGESSÄULE-Kulturredakteurin Annabelle Georgen sprach mit Merle Groneweg und Sarnt Utachamote über die diesjährigen Highlights des Festivals und die Impulse, die das neue Festival-Team setzen will

AG: Merle, nach vielen Jahren als Co-Leiterin des Festivals hast du nun nach Bart Sammuts Weggang die Leitung von Xposed übernommen. Setzt du auf Kontinuität oder hast du große Pläne?

Merle Groneweg: Ich bin bereits seit 2015 Teil von Xposed, von daher stehe ich eher für Kontinuität. Wir möchten ein queeres Filmfestival, das einen Schwerpunkt auf gut kuratierte Kurzfilmprogramme legt, ebenso wie auf Langfilmproduktionen abseits des LGBT-Mainstreams. Zu meinen Zielen gehören der Abbau von Barrieren und die Veränderung von Strukturen – bei uns im Team wie in der Filmbranche. Jahr für Jahr gibt es Lücken in unserem Programm, beispielsweise zeigen wir diesmal kaum Filme aus Zentralamerika oder dem Nahen Osten. Filme von und mit queeren Menschen mit Behinderung sind ebenfalls schwerer zu finden. Um diese und andere Herausforderungen zu bewältigen, braucht es vor allem Zeit und Geld. Beides haben wir nicht. Mein größter Wunsch ist, dass wir endlich mehr Fördermittel bekommen.

Bild: Vincent Wechselberger
Neue Festivalleiterin: Merle Groneweg

AG: Sarnt, du bist neu im Team. Wie bist du zum Festival gekommen und welche Perspektiven und Erfahrung bringst du ein?

Sarnt Utachamote: Xposed ist mir ein Begriff, seitdem ich 2014 in Deutschland ankam. Ein paar Jahre später habe ich das Festival zum ersten Mal besucht. Manchmal bin ich mit Freund*innen hingegangen, manchmal mit Dates, das Festival ist ein Treffpunkt für queere Leute. Nachdem ich 2020 den „Xposed Queer Short Film Fund“ gewonnen hatte, begannen meine Gespräche und später die Zusammenarbeit mit dem Festival. Natürlich bringe ich in jedes Projekt meine Perspektive als nicht binäre Person ein, als Nicht-EU-Migrant*in und Südostasiat*in, als Berliner Kurator*in, Möchtegern-Historiker*in und Filmemacher*in. Außerdem bringe ich mein Netzwerk in der queeren migrantischen Filmszene und meine bisherigen Erfahrungen in Produktion und Bildung, Kulturmanagement, Vermittlung und Politik mit ins Team.

Bild: Xposed
Neu im Kurationsteam: Sarnt Utachamote

AG: Welche Baustellen siehst du für die nächsten Jahre?

SU: Ich habe keine besondere Agenda, abgesehen davon, dass ich queere BIPoC und Filme aus dem Globalen Süden unterstütze, während ich sie gleichzeitig aber nicht romantisiere. Ich nehme nur die Filme auf, die wirklich kritische Stimmen oder Positionen vertreten, anstatt die, die versuchen dem europäischen Markt zu gefallen. Natürlich möchte ich mich an der Entwicklung kreativer, lokaler, queerer Perspektiven in Berlin beteiligen, die über internationale, oberflächliche Underground- oder Festivalmechanismen hinausgehen. Ich gehe meinen eigenen Fragen nach: Wie können wir einen alternativen Schutzraum für Filme und Filmemachen schaffen? Können queere Filme über etwas anderes als Geschlecht und Sexualität sprechen? Gibt es eine Erzählung oder eine Stimme, die auf dem queeren „Filmmarkt“ fehlt, der heutzutage viel größer geworden ist? Können wir diese „Marktmentalität“ in einem kleinen, nicht wettbewerbsorientierten Festival wie diesem jemals durchbrechen?

Eine Perle der diesjährigen Ausgabe ist die brasilianische Doku „Mothers of Derick“, die vier queere Mütter eines neunjährigen Jungen porträtiert ...

MG: „Mothers of Derick“ von Cássio Kelm ist ein echtes Highlight. Aufmerksam geworden sind wir auf den Film im Programm von „Queer Lisboa“, dem ganz tollen Filmfestival in Lissabon. Wie der Titel des Films schon sagt, porträtiert Cássio, der ein Freund der Familie ist, das Leben von Derick mit seinen vier Müttern auf dem Land in Brasilien. Es ist ein sehr sanftes Porträt über ihre Community ebenso wie ihr Alltagsleben, mit all den Höhen und Tiefen, die das so bietet. Die Familienkonstellation wird dabei weder hinterfragt noch erklärt, sondern einfach auf wunderbar warme Weise beobachtet.

AG: Was sind die anderen Highlights, gibt es so was wie einen roten Faden im Programm?

MG: Das, was sich wie ein roter Faden insbesondere durch unsere Langfilme zieht, klingt wie ein Klischee: Es geht um die Kunst des Geschichtenerzählens ebenso wie darum, klassische Erzählmuster und -formen aufzubrechen. Das spürt man ganz stark auch in den hybriden Dokumentarfilmen wie „Miguel‘s War“ von Eliane Raheb und „Framing Agnes“ von Chase Joynt, die sich beide mit Biografien beschäftigen und dabei klassische Interviews mit fiktiven Elementen verbinden.

SU: In gewisser Weise haben wir in diesem Jahr viele „Meta-Kino“-Ansätze, die das Verhältnis zwischen Queerness und dem Filmemachen selbst infrage stellen oder rekonstruieren. Darüber hinaus gibt es auch Spielfilme wie „Neptune Frost“, „24“ und „Three Tidy Tigers Tied A Tie Tighter“, die alle magischen Realismus mit Queerness, Musik und Performance verbinden. Sie spielen mit der Kamera, dem Publikum, der vierten Wand und allem, was dazwischen liegt.

AG: Leben die meisten vertretenen Regisseur*innen der diesjährigen Ausgabe in Berlin?

SU: Wir unterstützen die lokale Filmszene, tatsächlich sind in diesem Jahr aber nur sechs Kurzfilme bei uns vertreten, die in Deutschland produziert wurden und deren Macher*innen, Urheber*innen teilweise in Berlin leben. Dazu gehören Maissa Lihedheb („Hundefreund“), Thuy Trang Ngyuen („Jackfruit“), Virgil Taylor („Hansa Boy Something that Might Never Happen Again“), Marian Freistühler („Die geheimnisvollen Inseln“), Aykan Safoýlu („Hundestern steigt ab“) und der Gewinner des „Xposed Queer Short Film Fund 2021“, João Carvalho („Should I Ask About Your Moustache?“).

Bild: Malcolm Louis Reiss
Szene aus dem Kurzfilm "Hundefreund"

AG: Dieses Jahr gibt es wieder einen „Wikipedia Edit-a-thon“. Worum geht es genau?

MG: Der „Wikipedia Edit-a-thon“ wird organisiert von unserem tollen Programmmanager Thomas Schallhart, der viel Erfahrung im Verfassen von Wikipedia-Artikeln hat. Es geht darum, die Sichtbarkeit von queeren Filmen und Filmschaffenden bei Wikipedia zu stärken, denn viele haben keine deutschsprachigen Einträge, obwohl sie höchst relevant sind. Wer mitmachen möchte, kann Thomas eine kurze Anmelde-E-Mail schreiben. Infos dazu gibt es auf unserer Website.

SIEGESSÄULE präsentiert:

16th Xposed Queer Film Festival Berlin,
26.–29.05., Moviemento, IL Kino, Wolf Kino und aquarium

Das gesamte Filmfestivalprogramm gibt's hier

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