Reportage

Berlin im Rausch: Chemsex und Partydrogen

2. Jan. 2020 Elliot Zehms
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Im Berliner Nachtleben läuft vielerorts ohne Drogen nichts. Das birgt Herausforderungen, denen Community und Politik sich stellen müssen. SIEGESSÄULE-Autor Elliot Zehms berichtet

Der Bass dröhnt, überall verstrahlte Gesichter. Auf dem Klo wird eine Line Speed nach der anderen gezerrt, ganze Gruppen drängen sich in die engen Zellen. Mitten auf der Tanzfläche verkauft jemand Pillen und in den Ecken tropfen die Leute mit Pipetten GHB oder GBL in ihre Getränke. Eine ganz normale Nacht in Berliner Club-Hochburgen, in denen sich die Queers tummeln. Und gegen Morgen schalten dann etliche GayRomeo-Profile unter der Headline „Chemsfriendly“ in den „Now“-Modus. Erste Frage: „Immer noch oder schon wieder wach?“

Am Wochenende mutiert Berlin scheinbar zur Hauptstadt des Substanzkonsums. Chemische Drogen spielen eine immer größere Rolle, auch in zunehmendem Maße in einigen schwulen Szenen. Sicher, Drogenkonsum ist auch in der queeren Community kein neues Phänomen, schließlich waren die populärsten Treffpunkte, an denen LGBTI* zusammenkommen, schon immer Bars und Clubs. Bestimmte Drogen wurden gar zuerst in der schwulen Szene konsumiert, bevor sie der Mainstream für sich entdeckte. So war Ketamin beispielsweise vor vielen Jahren noch vorrangig in schwulen Fisting-Kreisen populär, bevor es eine gängige Club-Droge wurde.

Worüber sich Clubbetreiber*innen, Konsument*innen und Fachleute allerdings einig zu sein scheinen, ist, dass der Konsum von Partydrogen immer normalisierter wird – und das ist auch mit neuen Herausforderungen verbunden.

Partyrausch als Befreiung

Chemische Drogen sind längst nicht mehr nur unter jungen Clubkids in Mode, sondern erfreuen sich zunehmend in allen Altersklassen an Beliebtheit. Auch Jens (50 Jahre, Name geändert) hatte relativ spät seine erste richtige Begegnung mit „Chems“, als er vor fünf Jahren mit einem guten Freund seine erste Ecstasy-Pille nahm. Seitdem konsumiert er regelmäßig – meist Speed, Ketamin, Ecstasy, GHB/GBL oder Mephedron –, wenn er am Wochenende in sexpositiven Technoclubs unterwegs ist. Für ihn ist der Partyrausch eine Art der Befreiung: „Ich habe in meiner ersten Lebenshälfte viele Dinge nicht ausleben können, die ich jetzt sozusagen nachhole. Endlich alle Hemmungen fallen lassen zu können ist für mich Freiheit.”

Probleme mit Abhängigkeit hatte er nie, im Alltag empfindet er keine Sehnsüchte nach den Substanzen. Seine negativste Erfahrung machte er, als er leichtsinnig das erste Mal GHB/ GBL ausprobierte – und prompt bewusstlos wurde. Heute weiß er, dass ein kontrolliertes Setting und strikte Dosierregeln beim Konsum unverzichtbar sind.

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„G“-Konsum und seine Folgen

Partyveranstalter Hannes (Name geändert) bereitet genau diese Substanz zunehmend Sorgen: GHB/GBL, kurz „G“, das seinen Aufschwung in den 90ern erlebte und in der schwulen Szene vor allem aufgrund seiner aphrodisierenden Wirkung beliebt ist. Die Substanz ist vergleichsweise billig und für viele Fitnessfans zusätzlich attraktiv, weil sie den Muskelaufbau fördert. „Ich selbst bin seit fast zehn Jahren in der Berliner Clubszene unterwegs und beobachte, dass die Drogennotfälle unter den Gästen zu steigen scheinen,” berichtet Hannes. „Besonders der GHB-Konsum birgt ein hohes Risiko aufgrund der leichten Überdosierung.“

Wird die Substanz falsch dosiert, kommt es schnell zu Bewusstlosigkeit, weshalb G auch den Ruf als K.O.- und Vergewaltigungsdroge hat. Aufgrund der gehäuften negativen Erfahrungen, die Clubbetreiber*innen und Veranstalter*innen in den letzten Jahren mit der Substanz machten, führen viele Clubs mittlerweile eine strikte „No GHB/GBL”-Politik – Gäste, die mit GHB erwischt werden, fliegen sofort raus.

Hannes findet das Verbot kontraproduktiv: „Die Folge ist, dass die Droge weiterhin heimlich konsumiert wird, die Konsument*innen aber weniger dazu bereit sind, Hilfe zu rufen, wenn etwas dabei schiefgeht. Es kommt vermehrt vor, dass Gruppen aus Angst vor Konsequenzen Begleiter*innen, die bewusstlos werden oder einen schlechten Trip haben, irgendwo zurücklassen oder sogar verstecken.“ Seiner Meinung nach sind niedrigschwellige Aufklärungsangebote der bessere Ansatz, um Unglücke zu verhindern.

Aufklärung statt Verbote?

Eines dieser Angebote ist manCheck, ein vom Berliner Senat gefördertes Projekt der Schwulenberatung, das Präventionsarbeit zum Thema sexuelle Gesundheit leistet und das es schon seit zwölf Jahren gibt. Das Informationsangebot richtet sich an alle Arten von Männern*, die Sex mit Männern* haben, und das Team arbeitet direkt vor Ort – also in Clubs, Bars, an öffentlichen Cruising-Treffpunkten und auf Straßenfesten oder Events.

Da eine Ansteckungsgefahr mit sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV und Hepatitiden auch im Rahmen des Substanzkonsums besteht, klärt manCheck nicht nur zu Safer Sex, sondern auch zum Safer Drug Use auf. An ihrem Stand kann man sich neben Infomaterial auf Nachfrage auch Dosierhilfen für GBL/GHB, Sniff- und Slam-Packs für sicheren nasalen und intravenösen Substanzkonsum, Kochsalz-Nasenspülungen oder Hackkarten abholen.

Der Ansatz des Projekts ist Substanz-akzeptierend statt belehrend, erzählt Tristan Rehbold, der seit fast sechs Jahren bei manCheck arbeitet: „Wenn wir vor Ort sind und mit Menschen offen über Substanzen wie G reden, finden wir es wichtig, neben Gesprächen auch Safer-Use-Materialien anzubieten, ohne zum Konsum oder Nichtkonsum zu motivieren. Wir sind nicht dafür da, Verhalten und Lebensrealitäten zu problematisieren, sondern unterstützen eher, die eigenen Motivationen und Bedürfnisse im Fokus zu haben. Jede Person entscheidet im besten Fall selbst, was sie konsumieren möchte – wir versuchen mit unserem Angebot zu bewirken, dass die Leute diese Entscheidung informiert treffen können.”

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Berliner Modellprojekt zu „Drug Checking“

Dieser akzeptierende Ansatz findet mittlerweile auch auf politischer Ebene immer mehr Zuspruch. So kündigte die rot-rot-grüne Landesregierung von Berlin zum Beispiel für 2020 den Start eines Drug-Checking-Modellprojekts an, das es Berliner*innen erlauben soll, ihre Substanzen künftig auf Reinheit und Dosierung prüfen zu lassen (SIEGESSÄULE berichtete). Es ist Teil eines von der Regierung im Koalitionsvertrag angekündigten Maßnahmenpakets zur „Verminderung der Begleitrisiken von Drogenkonsum“.

Bei bestimmten Stellen (Homepage mit Orteverzeichnis derzeit in Arbeit) unter der Trägerschaft von Organisationen wie Vista, Fixpunkt oder der Schwulenberatung können Konsument*innen zukünftig gekaufte Drogen abgeben. Diese werden dann binnen weniger Tage im Labor auf ihre Inhaltsstoffe überprüft. Da zum Beispiel bei Ecstasy-Pillen die Wirkstoffdosierung häufig stark unterschiedlich ist, kann so einer Überdosierung vorgebeugt werden. Einziger Nachteil: Man muss seinen Konsum ein paar Tage im Voraus planen, ein mobiles Drug-Checking im Club ist derzeit noch nicht möglich.

Substanzkonsum und Sex

Dies ist ohnehin vielleicht nicht für alle Konsument*innen ein Problem, da auch in den eigenen vier Wänden und nicht nur im Club konsumiert wird – zum Beispiel beim Chemsex. Ein heiß debattiertes Phänomen, zu dem manCheck ebenfalls Aufklärungsarbeit leistet. Gemeint ist dabei der geplante und oft online verabredete Substanzkonsum in Kombination mit Sex.

Und der steigt drastisch an, berichtet Diplompädagoge Conor Toomey aus der Sucht- und Drogenstelle der Schwulenberatung Berlin: „Vor drei bis vier Jahren kamen nur etwa 20 Prozent der queeren Männer zu uns, weil sie Schwierigkeiten mit sogenannten Partydrogen hatten, also Speed, Ecstasy, Kokain und Ähnliches. Von den etwa 3.000 Kontakten, die 2018 zu uns kamen, hatten rund 50 Prozent eine Problematik mit Chemsex-Drogen, Tendenz steigend.”

Die Hauptsubstanz sei hier Crystal Meth, aber auch Mephedron, GHB/GBL und Ketamin seien beliebt. Gerade beim intravenösen Konsum von Crystal Meth (auch „Slamming“) sei das Abhängigkeitsrisiko enorm.

Welche Auswirkungen aber kann Chemsex beziehungsweise die Abhängigkeit von bestimmten Substanzen auf die Sexualität haben? „Entwickelt eine betroffene Person eine Substanzabhängigkeit und versucht von der Substanz loszukommen, ist das Herantasten an ein Sexualleben oftmals sehr schwer”, erzählt Conor. „Das ist besonders bei Crystal Meth und Mephedron so: Diese Substanzen bewirken im Gehirn einen Erregungszustand. Tritt dann auch noch sexuelle Erregung auf, werden Rausch und sexuelle Erregung im Gehirn sozusagen ,zusammengeschmolzen‘, sodass sie kaum noch auseinandergehalten werden können.” Versuche die betroffene Person also von der Substanz abstinent zu werden, könne allein sexuelle Erregung oder nur der Gedanke an Sex ein Verlangen nach der Substanz auslösen. Für viele werde es schwierig, überhaupt Sex zu haben ohne die Droge.

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Viele sind nicht mit den Regeln des „Safer Use“ vertraut

Neben Abhängigkeit ist das Risiko für sexuell übertragbare Infektionen ebenfalls erhöht, denn durch den Rausch lassen sich die eigenen Vorsätze schwerer einhalten. Schwuler Sex kann heutzutage durch PrEP und HIV-Behandlungsmöglichkeiten zum Glück so angstfrei ausgelebt werden wie nie zuvor. Dennoch sollten bestimmte Dinge beachtet werden: die entsprechende Einnahme der Medikamente, ein klärendes Gespräch über den Status des Gegenübers, bei Unklarheiten gegebenenfalls die Verwendung eines Kondoms und so weiter. Chemsex-Drogen können hier mitunter dazu beitragen, dass man im Rausch des Moments solche Dinge vergisst. Außerdem minimieren viele von ihnen das Schmerzempfinden, sodass es z. B. beim Analverkehr schon mal härter und länger zugeht. Das Risiko von Verletzungen steigt.

Da ein Teil der Praktizierenden vorher wenig bis gar keine Berührungspunkte mit Drogen gehabt hätte, seien sie außerdem oft nicht mit den Regeln des Safer Use vertraut, so Conor: „In unsere Beratung kommen auch einige Leute, die 50 + sind und das erste Mal in ihrem Leben Erfahrungen mit Drogen machen. Wenn dann direkt harte Drogen wie Crystal Meth konsumiert werden, die Betroffenen aber nicht aufgeklärt sind über mögliche Nebenwirkungen, kann das gefährlich sein.“

Auch sexuelle Übergriffe seien ein Thema, das zu wenig Beachtung bekäme: „Aus den Erzählungen meiner Klienten weiß ich, wie einfach es zu Grenzüberschreitungen unter bestimmten Substanzeinflüssen kommt.“

Zu wenige Beratungsstellen zum Thema Chemsex

Zum Thema Chemsex ist die Schwulenberatung bisher die einzige Beratungsstelle, die sich der Problematik annimmt und entsprechend sensibilisiert ist. Aber warum? „Derzeit ist Crystal Meth zumindest in Berlin vorrangig eine schwule Droge. In anderen Bundesländern wie in Sachsen oder Südbayern und Südbrandenburg, wo auch viel Crystal Meth konsumiert wird, sind die Konsument*innen meist heterosexuell, und es wird selten in einem sexuellen Kontext gebraucht. In Berlin hingegen haben andere Drogenberatungsstellen der Stadt kaum mit Crystal Meth zu tun.“

Conor vermutet jedoch, dass Chemsex in Zukunft auch unter Heterosexuellen an Popularität gewinnen wird: „Gerade in sexpositiven, gemischten Clubs gibt es viele Berührungspunkte. Deshalb werden derzeit auch andere Berliner Drogen- und Suchtberatungsstellen aufmerksam und informieren sich über das Thema – aus Angst, Drogen wie Crystal Meth könnten bald im Mainstream landen.”

Er hofft, dass es hier zu stärkerer Zusammenarbeit kommt, denn als einziger Chemsex-Anlaufpunkt ist die Beratungsstelle und Suchttherapie der Schwulenberatung überlaufen. Um mehr Austausch zwischen den verschiedenen Akteur*innen zu schaffen, kollaboriert manCheck beispielsweise mit dem Projekt Sonar, das für Clubbetreiber*innen, Partyveranstalter*innen und ihr Personal Schulungen organisiert zum Thema Substanzkonsum und Chemsex.

„Mit Verboten und Schuldzuweisungen erreicht man die Menschen nicht“

Die Präventionsarbeit wird jedoch dadurch erschwert, dass die meisten Chemsex-Partys im Privaten stattfinden. Damit mehr Konsumenten erreicht werden können, wünscht sich Tristan vor allem eine größere Diversität in den Informations- und Beratungsangeboten: „Der Begriff ,Chemsex‘ wird häufig vereinheitlicht – er ist aber kein Franchise oder Formblatt, sondern wird von den Menschen, die vor und/oder beim Sex Chems konsumieren, individuell gestaltet. Deshalb müssen Angebote vielfältig sein, um die Menschen, die sie benötigen, zu erreichen.“

Im Diskurs um Chemsex und Partydrogen brauche es innerhalb der Community vor allem eine offene Kommunikation und gegenseitiges Verständnis – egal, ob man „bewusst nüchtern“ oder „gerne mal high“ sei. Zentral ist für ihn hierbei eine realistische Einschätzung der Situation: „Mit realitätsfernen Horrorszenarien, Verboten und Schuldzuweisungen erreicht man die Menschen nicht, sondern erschwert den Dialog. Lebenswelten sind unterschiedlich und sollen es auch sein dürfen.“

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