Erfahrungsbericht

Berliner Dyke* March: Ein Tag der Konflikte und Solidarität

29. Juli 2024 Christian Bojidar Müller
Bild: Christian Bojidar Müller
Der diesjährige Dyke* March unter dem Motto „Dykes* united, against fascism“.

Vergangenen Freitag zog der zwölfte Berliner Dyke* March mit dem Slogan „Love Dykes – Fight Fascism!“ durch Neukölln. Rund 9.000 Teilnehmer*innen beteiligten sich an der Demonstration, die bereits im Vorfeld von politischen Spannungen zwischen pro-israelischen und pro-palästinensischen Gruppen innerhalb der Community überschattet wurde. Während der Demo kam es zu Auseinandersetzungen und Festnahmen. Unser Autor Christian Bojidar Müller war vor Ort und schildert die Ereignisse

Ab 17:00 füllte sich der Karl-Marx-Platz in Neukölln nach und nach mit Ordner*innen, die vom Orga-Team instruiert wurden. In diesem Jahr war die Situation direkt angespannter, da der Dyke* March im Vorhinein von einer politischen Debatte angeheizt wurde. So hatte das Dyke*-March-Orga-Team in einem Insta-Kommentar palästinasolidarische Melonen-Symbole verwendet und sich gegen Rassismus, Antimigrationsmobilisierung, Antisemitismus, Islamophobie, Siedlerkolonialismus, Genozid und Apartheid positioniert. Daraufhin kritisierten Teile der Community, die Nicht-Erwähnung des Hamas Terrors. Es folgten weitere Debatten, Auseinandersetzung und Vorwürfe gegenüber dem Dyke*-March-Team. Am 8. Juli eskalierte die Situation bei dem Soli-Abend in der Möbel Olfe, bei dem sich schlussendlich pro-palästinensische und pro-israelische Queers ein Wortgefecht lieferten und der Abend von den Organisator*innen vorzeitig aus Sicherheitsgründen beendet wurde. SIEGESSÄULE führte vor dem Dyke* March ein Interview mit den Organisator*innen.

Noch bevor der Demo-Zug am 26. Juli starten konnte verhängte die Polizei kurzfristig Beschränkungen, die vom Orga-Team vorgelesen wurden. Dabei bestand die Polizei darauf zu betonen, dass es Demonstrant*innen verboten sei das Gesicht zu verdecken, antisemitische Parolen zu singen und Hamas-Symbole zu verwenden. Kurz zuvor hatte sich auf dem Kar-Marx-Platz bereits eine Gruppe von pro-palästinensischen Teilnehmer*innen gesammelt, die Sprechchöre wie „Free Free Palestine“ anstimmten und auch das Wort „Intifada“ war zu hören. Intifada ist das arabische Wort für Aufstand und Widerstand, das von vielen aber auch mit terroristischen Angriffen der Hamas in Verbindung gebracht wird. Daraufhin war das Orga-Team verpflichtet die Polizei-Beschränkungen vorzulesen.

Um 18:30 startete dann die Demonstration mit den rund 9.0000 Teilnehmer*innen, die laut Veranstalter*innen während dem Marsch auf bis zu 12.000 Menschen anstieg und marschierten durch Neukölln und Kreuzberg, begleitet von rund 360 Polizeikräften. Ohne dass das Organisations-Team eine gewisse Reihung vorgesehen hatte, formierten sich nach und nach verschiedene Blöcke in der Demonstration – alles friedlich und mit gebührendem Abstand. Auffällig war, dass sich im Palästina-Block auch junge Männer versammelten, die pro-palästinensische Sprechchöre anstimmten und sich vermutlich nicht aufgrund lesbischer und anderer queerpolitischer Anliegen der Demo angeschlossen hatten.

Angespannte Situation zwischen Teilnehmer*innen

Trotz der Bitte im Vorfeld der Demo seitens des Dyke*-March-Teams, auf Nationalflaggen zu verzichten, waren zahlreiche Palästina-Flaggen und einige Israel-Flaggen zu sehen. Daraufhin äußerten sich Demonstrierende enttäuscht. So auch Besucherinnen aus Halle, die zum ersten Mal beim Dyke* March dabei waren. Sie hätten gemischte Gefühle, da sie einerseits bestimmte politische Themen unpassend für eine Pride-Veranstaltung hielten, andererseits aber auch Toleranz und Solidarität wichtig fänden. Hier sollte man wissen: Weder die Organisator*innen noch die Polizei können Menschen aufgrund von Nationalflaggen oder Transparenten von einer Demo ausschließen, solange keine akute Bedrohung vorliegt – so schreibt es das Berliner Versammlungsgesetz vor. Zwei junge Frauen aus dem pro-israelischen Block erzählten, dass sie sich zu Beginn der Demo durch die „Intifada“-Rufe verunsichert gefühlt und überlegt hatten die Demo zu verlassen. Im Endeffekt seien sie trotzdem mitgelaufen: „Dennoch ist es ein komisches Gefühl, mit Menschen zu marschieren, die einen ablehnen.“

Zu Beginn der Demo gab es außerdem eine Gruppe von TERFs (Trans-Exclusionary Radikal Feminists), die sich im hinteren Teil der Demo einordneten und schon nach kurzer Zeit von umstehenden Teilnehmer*innen abgeschirmt wurden. Andere Demonstrierende hielten ihre Trans*-Flaggen hoch, um die trans*-feindlichen und exkludierenden Transparente wie „My Vagina is a female place only“ zu überdecken. Im Zuge dessen kam es zu Unruhe und Demo-Teilnehmer*innen schrieen sich gegenseitig an, wodurch nach Auskunft der Orgas die ganze Demo in Verzug kam.

Bild: Christian Bojidar Müller
Laut Veranstlater*innen nahmen bis zu 12.000 Teilnehmer*innen an der Demo teil.

Zahlreiche gewaltsame Festnahmen

Erstmals in der Geschichte des Dyke* March kam es zu Verhaftungen. Laut Pressestelle der Polizei gab es insgesamt 28 vorübergehende Festnahmen, von denen niemand inhaftiert blieb. Daraus folgten 28 Anzeigen wegen Beleidigung, tätlichen Angriffs, Widerstands, des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen, Volksverhetzung, Gefangenenbefreiung, Verstoß gegen das Vereinsgesetz und Verstoß gegen das Versammlungsfreiheitsgesetz. Teilnehmer*innen berichten von brutalen Polizeieinsätzen und Festnahmen. Im Nachhinein kursierten viele Videos im Netz, die zeigen wie Personen brutal zu Boden gedrückt werden, die Polizei gewaltsam in die Menschenmengen eindringt und sogar eine bewusstlose Person von den Einsatzkräften an Armen und Beinen hochgehoben und weggetragen wird. Die Demo-Ordner*innen gaben bei jeder Festnahme die Namen an den Ermittlungsausschuss weiter und zeigten sich solidarisch mit den festgenommenen Personen.

Eine der verhafteten Personen beschrieb ihre Festnahme: „Plötzlich stürmten die Polizisten unvermittelt in die Menge. Ich geriet dabei ins Visier, und im nächsten Moment waren schon mehrere Beamte auf mir drauf, schlugen mich teilweise von hinten. Ich hatte nicht mal die Möglichkeit, mich zu wehren. Sie zogen mich mit so einer Gewalt aus der Menge raus, dass meine ganzen Arme, Schultern und Brust voller Hämatome sind. Nach zwei Stunden in Gewahrsam wurde mir mitgeteilt, ich werde wegen drei Vergehen angezeigt: Behinderung der Polizeiarbeit, Widerstand und tätlicher Angriff gegen Beamte.”

„Sie zogen mich mit so einer Gewalt aus der Menge raus, dass meine ganzen Arme, Schultern und Brust voller Hämatome sind.“

Die Gruppe an jungen Männern, die sich am Anfang dem Palästina-Block der Demonstration angeschlossen hatte und mit den „Free Free Palestine“-Rufen auf sich aufmerksam gemacht hatte, erzählte im Nachhinein auf Nachfrage, dass es ihre erste queere Demo gewesen sei. Sie seien von der Solidarität der queeren Community beeindruckt.

Am Endpunkt Oranienplatz gab es eine abschließende Kundgebung durch den Lautsprecher-Wagen, bei der das Orga-Team betonte, dass einige Gruppen nach diesem Marsch über lesbische Sichtbarkeit und Solidarität nachdenken sollten. „Wir lassen uns nicht vereinnahmen, wir lassen uns nicht spalten! Wir lieben Lesben und wir hassen den Faschismus!“ 

„Wir lassen uns nicht vereinnahmen, wir lassen uns nicht spalten! Wir lieben Lesben und wir hassen den Faschismus!“

Der zwölfte Berliner Dyke* March war ein Tag der Konflikte und Emotionen, aber auch einer der wenigen Demo-Züge, der es schaffte, zwei Lager mit verhärteten Fronten in einer Demo zu vereinen. Neben Provokationen führte dies aber auch zu Gesprächen und Begegnungen. Allerdings bleibt das Event von den gewaltsamen Polizeieinsätzen und Festnahmen überschattet und auch die lesbischen und queer-politischen Anliegen blieben in dem Zuge etwas auf der Strecke.

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