Wahlen in Berlin: Spitzenkandidatin der Grünen

Bettina Jarasch: „Die Leistung der queeren Community habe ich im Blick“

17. Juni 2021 Jeff Mannes
Bild: Dominik Butzmann
Grünen-Politikerin Bettina Jarasch könnte die nächste Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden

Am 26. September werden sowohl der Bundestag als auch das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Zum Start unserer Wahlberichterstattung baten wir Grünen-Politikerin Bettina Jarasch zum Interview, die für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin in Berlin kandidiert. Nachdem die Grünen in den Umfragen lange Zeit vorne lagen, liegen sie im Moment nur noch mit einem Prozent vor der CDU. Jeff Mannes sprach mit ihr für die Juni-Ausgabe der SIEGESSÄULE über Mieten in Berlin, queere Projekte und Identitätspolitik

Frau Jarasch, der frühere Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit meinte mal: „Berlin ist arm, aber sexy!“ Ich fand es noch nie besonders sexy, arm zu sein. Die Wohnungskrise und die steigenden Mieten in Berlin sind ein ernstes Thema. Mein Ziel ist es, die sozialen Spaltungen in der Stadt zu überwinden. Mit Blick auf Armut bedeutet das, dass niemand Angst haben sollte, keine Wohnung zu finden oder aus der eigenen Wohnung zu fliegen und obdachlos zu werden. Das ist meiner Meinung nach die aktuell drängendste soziale Frage in Berlin.

Was wollen Sie konkret gegen Gentrifizierung tun? Die Mietpreise sind explodiert. Dies ist nicht mehr nur dadurch zu erklären, dass es zu wenig Neubau gebe. Es sind spekulationsgetriebene Preissteigerungen und das müssen wir in den Griff bekommen. Natürlich braucht es auch mehr Wohnungsbau. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Richtigen bauen, also die, die am Gemeinwohl orientiert und bereit sind, bezahlbare, ökologische Wohnungen zu schaffen und dabei auf eine überzogene Rendite verzichten. Zusätzlich müssen wir alle anderen Instrumente nutzen: die Regulierung der Mietpreise, den Milieuschutz, die Stärkung von Genossenschaften und Stiftungen.

„Wir wollen Mittel vorschlagen, die durchaus radikal sein können, die aber auch umsetzbar sind.“

Heißt das, dass Sie Initiativen wie „Deutsche Wohnen & Co enteignen” unterstützen? Ich teile die Analyse und das Ziel dieser Initiative, nämlich dauerhaft genügend bezahlbaren Wohnraum zu haben. Was die Vergesellschaftung anbelangt, sind wir skeptisch. Wir wollen auf gar keinen Fall noch einmal Erwartungen wecken, die danach enttäuscht werden. Wir wollen lieber Mittel vorschlagen, die durchaus radikal sein können und müssen, die wir aber für rechtssicher halten und die auch umsetzbar sind.

Sie spielen damit auf den vom Verfassungsgericht gekippten Mietendeckel an. Ich habe mit Parteifreund*innen einen Änderungsantrag unseres Bundestagswahlprogramms eingebracht. Denn das Verfassungsgericht hat ja nicht gesagt, dass es einen Mietendeckel nicht geben darf. Es hat nur gesagt, dass dies nicht in der Zuständigkeit eines Bundeslandes liegt. Der Bund könnte aber Ländern wie Berlin, die einen angespannten Wohnungsmarkt haben, die Möglichkeit geben, die Mieten zu deckeln. Für diese Möglichkeit wollen wir uns bei Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene einsetzen.

Ausgerechnet in der Pandemie wurde das queer-feministische Hausprojekt Liebig 34 geräumt. Auch das queere Wagenplatzkollektiv Mollies soll verschwinden. Welche Bedeutung haben solche alternativen Wohnprojekte in Ihrer Politik? Ich halte solche Freiräume für wichtig. Das sind nicht nur Schutz-, sondern auch Kreativräume, in denen Dinge entstehen, für die Berlin berühmt ist. Die Zeit, in der es Leerstand für kreative Zwischennutzungen gab, war zwar toll, aber die wird nicht wiederkommen. Deshalb müssen wir solche Räume aus öffentlicher Hand sichern. Berlin hat einmalige Liegenschaften, wie das Flughafengebäude Tempelhof. Das eignet sich zwar eher nicht für die von Ihnen angesprochenen Wohnprojekte, aber das ist ein Beispiel für Orte, in denen es sehr viel Platz für Kultur und Kreativität gibt.

„Uns ist bewusst, dass es eine existenzielle Belastungsprobe für die Community ist.“

Berlin ist auch wegen seiner queer geprägten Clubkultur weltweit berühmt. Durch die Pandemie sind Clubs, aber auch Bars und die queere Infrastruktur allgemein in ihrer Existenz bedroht. Uns ist bewusst, dass es eine existenzielle Belastungsprobe für die Community ist, wenn solche Orte wegfallen. Ich glaube auch, dass Berlin ein ureigenes Interesse daran hat, solche Orte zu schützen. Denn die Club- und Barkultur ist einer der Gründe für die internationale Attraktivität von Berlin. Die queere Community und die Betreiber*innen dieser Clubs und Bars leisten etwas für die Stadt und diese Leistung habe ich im Blick.

Berlin ist bundesweit dafür bekannt, queerfeindliche Straftaten gezielt in der polizeilichen Statistik zu erfassen. Was muss geschehen, um präventiv gegen solche Gewalt vorzugehen? Antidiskriminierungspolitik ist hier ein wichtiges Thema. Und die muss schon in der Schule beginnen. Mit Sebastian Walter, unserem Sprecher für Antidiskriminierung und Queerpolitik, habe ich in den letzten Jahren viel dafür getan, dass wir schon in den Schulen damit beginnen, Fortbildungen gerade für die Leitungsebene anzubieten – aber bei Mobbing und Diskriminierung auch zu sanktionieren. Das Gleiche gilt für alle Behörden. Unser Leitbild Diversity soll die Stadtverwaltung dazu befähigen, mit Vielfalt umzugehen. Mit dem Landesantidiskriminierungsgesetz und der Antidiskriminierungsstelle beim Justizsenat haben wir die nötigen Strukturen geschaffen, damit Menschen bei Vorfällen klagen und sich vor Gericht vertreten lassen können.

„Bei Identitätspolitik ist bei mir eine persönliche Grenze erreicht.“

Von politischen Gegner*innen werden die Grünen gerne als Sprachpolizei bezeichnet. Die ganze Debatte um Identitätspolitik zieht sich aktuell durch fast sämtliche Parteien. Was sind Ihre Gedanken dazu? Sprache verändert Bewusstsein und ist dadurch immer auch ein politisches Instrument. Deshalb ist ein kritischer Umgang mit Sprache völlig legitim, ich wünsche mir in diesen Debatten allerdings einen deutlich entspannteren und gelasseneren Umgang miteinander. Wenn mich zum Beispiel jemand darauf aufmerksam macht, dass ein Wort, das ich benutze, bestimmte Menschengruppen verletzt, dann kann ich doch sagen: „O. k., das wusste ich nicht, dann verzichte ich auf dieses Wort.” Das kostet mich nichts. Ich muss mich aber nicht schämen für ein Wort, das ich ohne böse Absicht gebraucht habe. In der Antidiskriminierungsarbeit habe ich gelernt: Es geht nicht darum, dass Diskriminierung nicht mehr vorkommen darf. Sie wird immer vorkommen, weil wir es immer mit Schubladen in unseren Köpfen zu tun haben. Entscheidend ist, dass wir in der Lage sind, damit reflektiert umzugehen. Bei Identitätspolitik ist bei mir allerdings eine persönliche Grenze erreicht. Zumindest wenn Identitätspolitik so verstanden wird, dass man grundlegende Rechte nur als Angehörige einer bestimmten Gruppe haben soll oder man nur noch für ein gewisses Anliegen streiten darf, wenn man selbst betroffen ist. Dies würde mir ja auch meine politische Arbeit unmöglich machen. Ich bin zum Beispiel nicht selbst von Armut betroffen. Ich weiß, wie privilegiert ich lebe. Aber ich möchte eine Politik machen, die dies auch anderen Menschen ermöglichen kann.

Jetzt gibt es auch in Ihrer Partei ein Ausschlussverfahren, gegen Boris Palmer wegen Rassismus. Der beschwert sich über angebliche Cancel Culture. Wie sehen Sie das? Grundsätzlich muss in unserer Partei auch Platz für Menschen sein, die nicht immer korrekt reden, zumal das ein schwieriges Feld ist. Boris Palmer ist aber inzwischen eine andere Nummer. Es ist ein Unterschied, ob man aus Versehen etwas Verletzendes äußert und bereit ist, dazuzulernen – oder ob man immer wieder in die gleiche Kerbe schlägt und zwar bewusst. Und dies hat Boris Palmer getan. Die Grünen stehen nicht nur für Ökologie. Sie stehen auch für eine offene, emanzipierte Gesellschaft. Wenn man damit ein Problem hat, dann gehört man vielleicht auch nicht in unsere Partei.

Frau Jarasch, gibt es noch etwas, das Ihnen für Berlin wichtig ist? Ich möchte, dass Berlin auch international eine starke Stimme für Menschenrechte und gegen Diskriminierung wird. Berlin ist in sehr vielen Städtenetzwerken vertreten. Ich möchte mich als Bürgermeisterin sehr gern dafür einsetzen, dass Homo- und Transfeindlichkeit – und damit verbundene Menschenrechtsverletzungen – auch in anderen Ländern, wie Ungarn, Polen und Russland, bekämpft werden. Da können solche Städtenetzwerke wichtige Hebel sein.

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