Sex und Substanzkonsum in der queeren Szene

Wer in Berlin Sex auf Drogen hat, sucht die tiefe Verbindung – und riskiert dafür viel. Substanzen sind allgegenwärtig in der Community, doch über ihre Wirkung und die Folgen des Konsums herrscht oft Unwissenheit. Sören Kittel ging für SIEGESSÄULE zur ersten „ChemKon“ und sprach mit Experten zum Thema Chemsex
Paul* kann sich gut an die drastischen Momente erinnern in seiner Zeit, als er noch Substanzen beim Sex genommen hat. Der 33-jährige gebürtige Kalifornier erzählt dann ohne Pause in einem Mix aus Deutsch und Englisch von seinen langen Berliner Nächten, zeigt bei einem Spaziergang durch Schöneberg auf Häuser und sagt: „Einmal bin ich von dort gleich in das Nachbarhaus zum nächsten Typen.“ Er erzählt von Schwanzgrößen detailreich („Ich bin einfach keine Size-Queen“), von aktivem und passivem Sex („Gern beides gleichzeitig!“) – und von diesem einen Muskeltypen, der ihn schon im Jockstrap an der Tür begrüßte „und im Chat vergessen hatte, die vier anderen Typen zu erwähnen“.
Solche endlosen Berliner Nächte waren für Paul nicht nur an Wochenenden Realität, sondern gern auch mal dienstags um 14 Uhr. „Ich habe damals in einem Frühstücksrestaurant in Kreuzberg gearbeitet“, sagt er, „die Küchenchefs hatten immer eine Line Kokain oder Speed für Mitarbeiter*innen, wenn sie müde aussahen.“ An seinen freien Abenden ging er dann mit Freunden aus, von der drogenaffinen Berliner Gastronomie in die drogenaffine schwule Clubwelt. Wenn er online Sexualpartner suchte, landete er immer wieder bei diesem harmlos klingenden Hashtag: #chemsfriendly.
Zwischen Leistungsdruck und Eskapismus
Von Chemsex spricht man bei einem „sexualisierten Substanzkonsum“, das heißt, dass vor oder während einer Sex-Session eine stimulierende Substanz eingenommen wird. Genaue Zahlen zum Konsum gibt es nicht, aber dass er in Berlin in den vergangenen Jahren angestiegen ist, das belegen alle verfügbaren Daten, von Abwasseruntersuchungen bis zur Zahl der drogenbedingten Todesfälle. Im Jahr 2023 gab es in Berlin einen Rekord: 271 Menschen waren an Drogenkonsum gestorben, doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor, die meisten davon Männer.
Gerade weil es so wenig verlässliche Daten gibt, ist das Sprechen über Drogengebrauch schwierig und führt schnell dazu, dass man nur über die Substanzen und deren Missbrauch spricht. Martin Viehweger ist Infektiologe und Aktivist für sexuelle Gesundheit, der sich seit Jahren speziell mit Chemsex auseinandersetzt. „Der meiste Gebrauch von Substanzen ist ohne Probleme assoziiert“, sagt er, „aber der problematische Substanzgebrauch birgt halt doch recht große Risiken und Gefahren für Leib und Leben.“
„Es muss immer klappen und möglichst sofort.“
Er wolle Substanzgebrauch nicht pathologisieren. „Ich versuche eher nach der Frage zu schauen, was es über unsere Gesellschaft aussagt, dass wir unser Sexerlebnis immer weiter optimieren müssen.“ Man sollte also über Themen wie Leistungsdruck, Selbstoptimierung, Eskapismus oder Eskalation sprechen. „Es muss immer klappen und möglichst sofort.“
Erste Konferenz zu sexualisiertem Substanzkonsum
Um diese und viele andere Fragen rund um Chemsex zu klären, hat Viehweger zusammen mit der Bundesinitiative sexualisierter Substanzkonsum (kurz: BISS) Ende März in der Charité die erste „ChemKon“ veranstaltet, eine Konferenz rund um das Thema Chemsex. 250 deutschsprachige Wissenschaftler*innen und Drogenberater*innen, Psycholog*innen, Suchtexpert*innen, Betroffene und Mitarbeitende aus dem Partykontext trafen aufeinander. Sie trugen das aktuelle Wissen zusammen und besprachen auch, welche neuen Ansätze es in der Therapie gibt.
Berater Conor Toomey von der Berliner Schwulenberatung war ebenfalls auf der Konferenz und findet, dass Berlin im Vergleich zu anderen Städten mittlerweile sehr gut aufgestellt ist. „Inzwischen gibt es hier in der Stadt niedrigschwellige Angebote wie Drug Checking, wo wir in Kontakt mit Konsument*innen kommen können, und auch erste Angebote, um den Konsum zu reduzieren, ohne komplett abstinent werden zu müssen.“ Vor zehn oder sogar fünf Jahren gab es das alles in Berlin noch nicht. „Aber es gibt dafür noch zu wenig Plätze“, sagt Toomey. „Jedes Mal, wenn wir dazu ein Angebot machen, sind die Plätze sofort ausgebucht.“ Auch gibt es inzwischen ein spezielles Chemsex-Angebot für Menschen, die bemerken, dass sie etwas an ihrem Konsum verändern wollen.
Auch Paul wollte das, als er merkte, für ihn gab es nur noch die Arbeit im Restaurant und Sexpartys. In ruhigen Momenten kamen ihm plötzlich Selbstmordgedanken. Er ging zu einem Psychologen, der ihm eine Reha in einer Einrichtung für Abhängige empfahl. „Nach den vier Monaten dort blieb ich zunächst lange abstinent“, erinnert er sich. Sein Restaurant hatte ihn während der Zeit in der Reha gefeuert – „offenbar war das legal, obwohl ich nicht mehr in der Probezeit war“.
In der Reha lernte er, wieder anders mit Freizeit umzugehen, er las wieder Bücher, suchte Kontakt mit nüchternen Freund*innen. Es gab nur ein Problem: „Ich hatte kaum Sex“, beklagt er, „bis ich wieder auf Sexpartys ging.“ Zunächst wäre es leicht gewesen, dort nicht mitzukonsumieren. „Es war wie eine Wette gegen mich selbst.“ Das ging lange gut, bis er irgendwann doch eine Line Kokain annahm … Er weiß noch, wie er dachte: „Ah, fuck it!“

Sex und Substanzen passen perfekt zusammen, auch das wurde immer wieder auf der „Chemkon“ thematisiert: Beide wollen ein bestimmtes Glücksgefühl möglichst lange hinauszögern, einen endlichen Augenblick endlos werden lassen. Drogen helfen dabei, störende Sorgen, Hemmungen und Ängste beim Sex hinter sich zu lassen.
Bei einem Chemsex-Setting kommt noch hinzu, dass die Teilnehmenden einander auch sozial näher kommen. Sie reden, kuscheln, lachen – sodass der Sex sogar in den Hintergrund rücken kann. Eine wissenschaftliche Studie der TH Nürnberg bestätigt sogar, dass internalisierte Homophobie unter Chemsex-Usern niedriger war als unter Homosexuellen generell. Viehweger nennt das eine Form von Zusammengehörigkeit.
Konsumkompetenz erhöhen
Doch in derselben Studie werden auch die negativen Folgen von Chemsex aufgezählt, die überwiegen: Wer Sex unter Drogen hat, hat auch eine viel höhere Wahrscheinlichkeit für Depression, Abhängigkeit, Suizidgedanken, Belastungsstörungen, Psychosen, für eine HIV-Infektion sowie für Gewalterfahrung und nicht einvernehmlichen Sex.
Laut Conor Toomey werden diese Folgen von Chemsex noch immer unter den Teppich gekehrt. „Ich möchte auch, dass wir in Berlin noch mehr Konsumreduktionsprogramme anbieten – am besten von der Krankenkasse oder der Rentenkasse bezahlt.“ Er wünsche sich aber auch, dass es in der schwulen Szene mehr Bewusstsein für riskanten Konsum gebe. Das betreffe etwa neue Substanzen wie Monkey Dust, das auch in der Berliner Chemsex-Szene konsumiert wird. „Das ist eine Substanz mit sehr deutlichen gesundheitlichen Risiken.“
Die generelle Erhöhung der Konsumkompetenz – das ist einer der neuen Ansätze, mit denen vor allem in der Schweiz gute Erfahrungen gemacht wurden, und bedeutet, dass sich die Konsument*innen intensiver damit befassen, welche Substanzen welche Folgen haben und so auch die Risiken besser abschätzen können. Das könnte auf lange Sicht die Zahl der Unfälle verringern sowie die Abhängigkeiten und Missbräuche.
„Viele Konsumenten ziehen sich stark in ihren häuslichen Bereich zurück und sie anzusprechen ist schwierig.“
Auch Infektiologe Martin Viehweger sieht im Ausbau der Selbsthilfe und der niedrigschwelligen Angebote wichtige Punkte, um in Berlin die gesundheitlichen Folgen von Chemsex in den Griff zu bekommen. „Viele Konsumenten ziehen sich stark in ihren häuslichen Bereich zurück“, sagt er, „und sie anzusprechen ist schwierig.“ Chemsex ist schon immer auch ein Phänomen von großen Städten gewesen. „Aber in Berlin“, sagt Viehweger, „kommt dazu, dass es hier sehr viel Überstimulation und sehr viel egozentrisches Verhalten gibt.“ Das heißt, jeder könne sich zwar entfalten, auch sexuell – „aber wenn es schiefgeht, dann kümmert sich niemand“.
Paul hat durch seine Reha gemerkt, wie es sich anfühlt, mehrere Monate am Stück nüchtern zu sein. Diese Erfahrung trägt er mit sich, auch wenn er gerade nicht nüchtern lebt. „Ich habe auf jeden Fall mehr Selbstwert“, sagt er, „und mein Ziel ist es auch, dauerhaft nüchtern zu bleiben.“ Dafür wird er noch einmal eine ambulante Therapie anfangen. Gerade gehe er durch eine schwierige Phase, hat wieder in einem Restaurant angefangen, der Stress nimmt dort gerade zu. Parallel kümmert er sich um eine Umschulung, damit er diese Branche verlassen kann.
Anfang April war er wieder auf einem „Chill“. So heißen die Gruppenverabredungen, auf denen es meist zu Chemsex kommt. „Ich war mit einem Freund dort und mit ihm konnte ich mich zum Glück unterhalten.“ Das war ursprünglich der Grund, auf Chills zu gehen: tiefere Verbindungen mit anderen Menschen. Aber alle seien dafür zu drauf gewesen. „Eigentlich endet inzwischen jede Party damit, dass alle völlig weggetreten sind“, sagt Paul. „Ich glaube, es gibt bei Monkey und Crystal Meth keinen gesunden Konsum.“ Sein Kumpel habe mit den anderen mitgemacht, Paul ist dann nach Hause gegangen. Er wollte schlafen.
* Name geändert
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