„Descent” – ein ritueller Abstieg in menschliche Abgründe

Performer*in Riley Davidson und Cellist Moritz Ebert ergründen in ihrer zeitgenössischen Performance „Descent“ die Gleichzeitigkeit unvereinbarer Widersprüche in der digitalen Welt – zwischen Massaker und Meme
Am Anfang riecht es nach Rosmarin. Performer*in Riley Davidson reicht dem Publikum am Eingang kleine Zweige. Der intensive Duft hilft, sich zu erden. Das wird später noch wichtig, denn „Descent” ist keine gewöhnliche Performance, sondern eine Reise durch Abgründe, die an manchen Stellen kaum auszuhalten sind.
„Wir sind als Gesellschaft in einem Prozess des Abstiegs in eine Unterwelt des Todes und der Zerstörung, die für uns kaum fassbar ist.“
Das Stück nimmt den sumerischen Mythos von Inannas Reise in die Unterwelt als Ausgangspunkt und macht ihn zur Gegenwart. Die um 2000 v. Chr. entstandene Tontafelschrift handelt vom Tod der Göttin Inanna und ihrer anschließenden Wiedergeburt. Davidson wählt diesen Mythos bewusst. „Wir sind als Gesellschaft in einem Prozess des Abstiegs in eine Unterwelt des Todes und der Zerstörung, die für uns kaum fassbar ist. Auf gewisse Weise verkörpern wir alle Inanna”, erzählt Riley Davidson im Gespräch mit SIEGESSÄULE.
Massaker neben Meme
Zu Beginn läuft Davidson mit einem Helm durch den Raum, die Augen auf das Handy geheftet. Ein Reel jagt das nächste: Bilder von Kriegen, Bomben, Zerstörung, gefolgt von Katzenvideos und absurdem Brainrot-Content. Diese Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren – Massaker neben Meme – fühlt sich zu real an und ist gerade deshalb so dystopisch.
Später ritzt Davidson Granatäpfel auf und spuckt die blutroten Kerne in einen Eimer, der sich langsam füllt, wie eine düstere Opfergabe, ein Bild für angestauten Schmerz, der sich nicht entladen kann. Ausgewählte Zuschauer*innen werden angewiesen, das Spektakel mit Blitzlicht zu filmen. Besonders eindrücklich ist das Bild der Erde: Davidson nimmt sie in die Hände, streicht sie über die Haut, verwandelt sie in ein Symbol der Trauerarbeit. Trauer wird zu etwas, das gepflegt und gehegt werden muss, damit daraus neues Leben entstehen kann. Dazu erklingt das klagende Cello von Moritz Ebert, durchzogen von den live entstehenden Soundlandschaften von Juan Cernadas.
Trauer ist im Kern queerer Realitäten verankert: die Trauer darüber, nicht akzeptiert oder verstoßen zu werden, immer wieder angegriffen zu werden.
„Der Prozess, das Stück zu erschaffen, war selbst ein Abstieg“, erzählt Davidson. Trauer sei nicht nur eine individuelle Erfahrung, sondern im Kern queerer Realitäten verankert: die Trauer darüber, nicht akzeptiert oder verstoßen zu werden, immer wieder angegriffen zu werden. Und dieses Gefühl ist zutiefst kollektiv, gemeinsame Last und zugleich Kraft.
Raum für Wut, Verlust, Scham
Diese Dimension weitet Davidson auf die weltpolitische Lage aus: „Wir verlieren unsere Rechte, wir verlieren, was es heißt, Mensch zu sein, insbesondere wenn wir den Genozid in Gaza mitansehen. Ohne uns Zeit zum Verarbeiten zu nehmen, ist es schwer, weiter zu kämpfen.“ Der uralte Stoff von Inannas Abstieg wird zur Spiegelung unserer Gegenwart: ein ritueller Raum für Wut, Verlust, aber auch für Scham und Schuld. Davidson lehnt dabei die koloniale Trennung von Geist und Körper ab, setzt auf Traumlogik und Mystik, auf „Macht mit“ statt „Macht über“. Zwischen den Gesten des Rituals halten die Zuschauer*innen den Rosmarin an die Nase, atmen tief ein, trösten einander still, legen Hände auf Schultern oder halten sie.
„So viel Zerstörung entsteht daraus, dass wir ständig unseren Verstand über alles andere setzen. Ich wollte eine Erfahrung schaffen, die Menschen durchleben können, ohne sie rationalisieren zu müssen”, sagt Davidson. Das Ergebnis ist eine schonungslose Einladung, gemeinsam zu fühlen, und eine Erfahrung, die nachhallt.
„Descent”
01.09.+04.09.+05.09., 18:00
Hosek Contemporary
MS Heimatland/Märkisches Ufer 1Z, 10179 Berlin
hosekcontemporary.com/events
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