Die unterschätzte Infektion: So viele Syphilis-Fälle wie noch nie
Im Zeitalter von PrEP denken viele: „Ich bin sicher, viel passieren kann ja eh nicht.“ Doch das stimmt nur bedingt, wie die rasant steigenden Fälle von Syphilis zeigen – eine der ältesten Geschlechtskrankheiten der Welt, die gerade ein Comeback erlebt. Welche Gefahren sich ergeben, wenn sie nicht rechtzeitig entdeckt und behandelt wird, schildert SIEGESSÄULE-Autor Sören Kittel
In einem Pflegeheim im Norden Berlins sitzt ein 62-jähriger Mann auf einer Couch und blickt ins Leere. Früher war er ein bekannter Pressesprecher großer Kulturinstitutionen der Stadt. Viele haben ihn angehimmelt. Er hat mit vielen geflirtet und kannte so gut wie jeden. Heute erkennt er kaum noch die Menschen, die ihn besuchen. Er spricht selten, manchmal gar nicht, und nur wenn er jemanden direkt ansieht, wirkt es, als wolle er mit einem Lächeln noch etwas Wichtiges mitteilen. Der Mann hat eine Demenz im Endstadium. Warum sie so schnell voranschritt, ist unklar – doch ein Hinweis ist seine Syphilisinfektion, die jahrelang unentdeckt blieb, bis sie bereits das Gehirn erreicht hatte. Nach der Diagnose bekam er sofort Antibiotika, aber da war die Erkrankung schon weit fortgeschritten. Solche Fälle sind extrem selten, aber sie zeigen, wie Syphilis im schlimmsten Fall verlaufen kann.
Der Infektiologe Heiko Karcher sagt im SIEGESSÄULE-Interview, dass solche Verläufe kaum vorkommen. „Syphilis ist gut behandelbar. Es gibt bislang keine Resistenzen und selbst im fortgeschrittenen zweiten Stadium lässt sie sich sehr zuverlässig mit Penicillin therapieren.“ Das Problem sei die frühe Erkennung: „Das erste Symptom ist ein schmerzloses Geschwür – häufig im Mund, am Penis oder im Analbereich. Man sieht es oft nicht, und es tut eben nicht weh.“ Weil die Zeichen sehr unterschiedlich sein können, nennen Ärzt*innen die Syphilis auch „das Chamäleon unter den Infektionen“.
Fast jeder fünfte Fall wurde in Berlin registriert. Die Stadt liegt bundesweit an der Spitze: 35,7 Fälle pro 100.000 Einwohner*innen.
Übertragen wird Syphilis fast immer sexuell – und in einer Großstadt mit einer großen queeren Szene, zahlreichen Clubs, Dating-Apps und häufig wechselnden Kontakten gibt es naturgemäß viele Gelegenheiten für eine Infektion. Historisch war Syphilis über Jahrhunderte (auch in Berlin) gefürchtet: als „Große Verheererin“, die Menschen aller Schichten traf. Darunter der schwule Komponist Franz Schubert und sein italienischer Kollege Gaetano Donizetti, der französische Maler Édouard Manet und die niederländische Tänzerin und Spionin Mata Hari. Heinrich Heines spätes Leiden wurde von Ärzten seiner Zeit ebenfalls dieser Erkrankung zugeschrieben. Aktuell meldet das Robert Koch-Institut für 2024 bundesweit 9.519 Syphilis-Fälle – so viele wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen, ein Plus von 3,9 Prozent. Fast jeder fünfte Fall wurde in Berlin registriert. Die Stadt liegt bundesweit an der Spitze: 35,7 Fälle pro 100.000 Einwohner*innen, während Brandenburg mit 4,5 am unteren Ende steht.
Niederschwellige Angebote für queere Menschen
Gleichzeitig gibt es für Berlin eine gute Nachricht: Die Quote der positiven Tests sinkt seit einigen Jahren leicht. Ein Grund ist die hohe Testdichte. Queere Menschen können sich niedrigschwellig, günstig und anonym testen lassen – etwa beim Checkpoint, bei der Aids-Hilfe oder bei Mann-O-Meter am Nollendorfplatz.
„Die höchsten Zahlen hatten wir kurz vor der Pandemie“, sagt Wolfgang Osswald von Mann-O-Meter zu SIEGESSÄULE. Damals waren es fast fünf Prozent der Fälle „Aber aktuell liegt die Positivrate bei uns nur noch bei 1,48 Prozent.“ Für dieses Jahr erwartet er ähnliche Werte. Doch laut Karcher sind nicht die gut informierten PrEP Nutzer*innen das Problem.
„Es geht um Menschen ohne Versicherung, ohne regelmäßige Gesundheitsversorgung oder solche, die gar nicht auf die Idee kommen, dass sie betroffen sein könnten.“
„Es geht um Menschen ohne Versicherung, ohne regelmäßige Gesundheitsversorgung oder solche, die gar nicht auf die Idee kommen, dass sie betroffen sein könnten.“ Besonders Heterosexuelle würden oft nicht damit rechnen, sich bei promiskem Verhalten zu infizieren. „Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Hausärzt*innen sich trauen, Syphilis mitzubehandeln.“ Viele überweisen reflexhaft weiter, doch bis zur Diagnose vergeht Zeit – und in der können weitere Menschen angesteckt werden. Dabei ist Syphilis eine der wenigen sexuell übertragbaren Infektionen, die vollständig heilbar sind. Die Behandlung ist unkompliziert: eine Penicillin-Spritze ins Gesäß, danach meist einen Tag Schmerzen – und das war’s.
Mann-O-Meter stellt inzwischen häufiger fest, dass Männer sich dort anmelden, die im Fragebogen „bisexuell“ ankreuzen – vermutlich um Zugang zu einem anonymen, günstigen Test zu bekommen. Für heterosexuelle Menschen gibt es in Berlin kaum vergleichbar niedrigschwellige Angebote. Die Termine am Nollendorfplatz werden täglich an die vergeben, die zuerst kommen – oft sind schon nach wenigen Minuten alle Termine weg.
Lesben seltener gestestet
Lange galt im 19. Jahrhundert die Vorstellung, Frauen könnten Syphilis weitergeben, ohne selbst krank zu werden. Tatsächlich beruht diese Annahme auf Vorurteilen und dem begrenzten medizinischen Wissen der Zeit: Frauen zeigen oft weniger sichtbare Symptome, insbesondere im Frühstadium, wodurch ihre Infektionen seltener dokumentiert wurden. Medizinische Aufzeichnungen zeigen jedoch, dass Frauen genauso wie Männer alle Stadien der Krankheit entwickeln konnten – von den ersten Geschwüren über Hautausschläge bis hin zu neurologischen Komplikationen im Spätstadium.
Frauen machen in Berlin allerdings nur etwa sieben Prozent der gemeldeten Syphilis-Fälle aus. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie kein Risiko tragen: Ungleichheiten beim Zugang zu Tests, subtilere Symptome und späte Diagnosen können dazu führen, dass Infektionen bei Frauen unentdeckt bleiben. Das gilt auch für lesbische Frauen, selbst wenn das Risiko bei ihnen im Vergleich zu Männern oder heterosexuellen Frauen geringer ist. Übertragen wird die Infektion vor allem durch direkten Schleimhaut- oder Hautkontakt mit Ulzera oder Blut, etwa während sexueller Praktiken oder Menstruation.
In der Praxis werden Frauen, die Sex mit Frauen haben, seltener getestet, da das Risiko oft als vernachlässigbar eingeschätzt wird. Wie bei anderen sexuell übertragbaren Krankheiten ist Prävention auch bei Syphilis essenziell. Sie ist heute heilbar – aber wichtig ist, dass sie nicht zu spät diagnostiziert wird. Berlin steht dabei besser da als andere Städte, weil hier viele Bewohner*innen gelernt haben, offen über Sexualität und Risiko zu sprechen. Und das ist immer ein guter Ausgangspunkt.
Infos und Beratung:
Mann-O-Meter
Bülowstr. 106
mann-o-meter.de
Checkpoint BLN
Hermannstr. 256–258
checkpoint-bln.de
Berliner Aids-Hilfe
Kurfürstenstr. 130
berlin-aidshilfe.de
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