Doku „Truth or Dare“ über die sexpositive Expat Community
Selten war Reden so sexy: In Maja Classens expliziter Doku „Truth or Dare“ gibt eine Gruppe queerer Expats, intime Einblicke in die sexpositive Community Berlins, Consent-Praktiken und das eigene Begehren
Verlassene Straßenzüge, verwaiste Clubeingänge, schummrige Flure. Ein Raum öffnet sich, doch auch hier bewegt sich nichts außer Discolichtern, die wie Suchscheinwerfer über eine menschenleere Tanzfläche streichen. Maja Classen inszeniert in ihrer experimentellen Doku „Truth or Dare“ das nächtliche Berlin als besatzungsloses Raumschiff, das auf einem unbewohnten Planeten gestrandet zu sein scheint. Während die Kamera durch ausgestorbene urbane Landschaften gleitet, sind im Voiceover die Stimmen queerer Expats zu hören, die von ihren Wegen nach Berlin erzählen. Sie sprechen von der Trauer, die auf eine Trennung folgt, aber auch dem High der Freiheit, der Erregung und zugleich Unsicherheit, die eine FLINTA*-Person beim Erkunden schwuler Cruising-Orte verspürt, der Flucht vor faschistischen Eltern und homophoben Predigern, von Migrationserfahrungen und schließlich dem Ankommen in der sexpositiven LGBTIQ*-Community.
Verlust von Kontrolle und Ego
Dann jedoch kommt Leben in den Film: Paarszenen in der Intimität der eigenen vier Wände, eine Gruppensession, in der Neugierige bei einer Runde „Wahrheit oder Pflicht“ ihr Begehren miteinander erkunden. Viele Protagonist*innen kennt man aus der Szene: die Underground-Filmemacherin LoFi Cherry, der*die Drag- und Burlesque-Künstler*in Bishop Black, Mad Kate und Adrienne Teicher, die gemeinsam die Electro-Punk-Band Hyenaz bilden.
Allerdings kehrt Classen – im Vergleich zu konventioneller Pornografie – die Gewichtung bewusst um: 80 Prozent Reden, 20 Prozent Sex.
Fließend gehen die Gespräche über in zärtliche Berührungen und Sex. Da viele der Darsteller*innen Erfahrungen im DIY-Porno-Bereich haben, wirken Nacktheit und Erotik vor der Kamera auch hier ganz gelöst und natürlich. Allerdings kehrt Classen – im Vergleich zu konventioneller Pornografie – die Gewichtung bewusst um: 80 Prozent Reden, 20 Prozent Sex. Wobei verbale Kommunikation und körperliche Intimität ebenso wenig voneinander abgegrenzt werden wie „Vorspiel“ und „Sex“ in nicht heteronormativen Kontexten.
Manche Paare kommen einander zum ersten Mal nah und müssen zunächst ihre anfängliche Schüchternheit überwinden, STI-Testergebnisse und ihren HIV-Status abklären. Andere kennen sich schon lange, wie Kate und Adrienne, die über Genderfluidität und die Umbrüche in ihrer langjährigen Poly-Beziehung sprechen.
Doch egal, ob die Begegnungen erstmalig, einmalig oder seit Jahren erprobt sind – Classen gelingt es in jeder Einstellung, einen intimen Raum zu schaffen, der die Mitwirkenden dazu ermutigt, sich auch mal verletzlich und unsicher zu zeigen. Damit zeigt sie, dass transparente Kommunikation und das kontinuierliche Einholen von Konsens nicht nur selbstverständlich dazugehören sollten, sondern auch verdammt sexy sein können.
Mit feinem Gespür für Rhythmus und Spannung wechselt die Regisseurin zwischen den Räumen und Personen, hält gekonnt die Balance zwischen Einsamkeit, Zweisamkeit und kollektivem Miteinander.
Trotz einiger explizit pornografischer Szenen, in denen wie in den Ausschlägen einer Fieberkurve ekstatische Energien aufwallen, überwiegt in „Truth or Dare“ eine meditative Grundstimmung. Mit feinem Gespür für Rhythmus und Spannung wechselt die Regisseurin zwischen den Räumen und Personen, hält gekonnt die Balance zwischen Einsamkeit, Zweisamkeit und kollektivem Miteinander. „Wenn man einen Vogelschwarm beobachtet, sieht man den Verlust von Kontrolle und Ego beim einzelnen Vogel, der auf majestätische Weise mit allen anderen Vögeln fliegt“, sinniert gegen Ende Adrienne, während sich zwei nackte Körper in einer stillen Tanzsequenz durch einen verlassenen Darkroom bewegen.
„Menschen fahren Achterbahn, um diesen Kontrollverlust zu erleben, oder singen im Chor, weil wir Teil von etwas sein wollen.“ Auf berührende, unaufdringliche Weise zeichnet „Truth or Dare“ diesen Bogen nach – von individuellen Suchbewegungen über ein Gefühl der Sehnsucht bis hin zum Aufgehen in einer selbst gewählten Gemeinschaft.
Truth or Dare
D 2024, Regie: Maja Classen
Mit Jasko Fide, Bishop Black, Mad Kate, Puck, KAy Garnellen, Dita Rita Scholl u. a.
Ab 13.11. im Kino
SIEGESSÄULE präsentiert MonGay-Preview
10.11., 21:30
Babylon Kreuzberg
yorck.de
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