Kings, Queens, Quings

Radikal queer, politisch und handgemacht: Drag-Szenen in Berlin

13. Juni 2025 Lara Hansen
Bild: Claudia Hammer
Performer*in Lilith the Quing glänzt auf den alternativen Bühnen mit dämonischem Charisma

In Berlin formiert sich eine Drag-Szene, die radikal queer, politisch und handgemacht ist. Ihre Protagonist*innen sind Kings, Queens, Quings, Dämonen, Genderfucker. Und sie kreieren Räume für all jene, die in kommerziellen Drag-Zirkeln keine Bühne finden. SIEGESSÄULE-Redakteur*in Lara Hansen sprach mit den Performer*innen Lilith the Quing, Prince Emrah, Miss Steak und Seliquere

Upgecycelte Kleider aus Supermarktplastiktüten, DIY-Make-up und Bühnenwesen irgendwo zwischen Dämon, Cowboy und Kuh – in Berlin reift seit einigen Jahren eine queere Drag-Szene heran, fernab von Glamour-TV und perfektionierter Feminisierung à la „Drag Race“, die sich jeder Kategorisierung entzieht. Stattdessen schafft sie Räume für Anarchie, Fürsorge und subversiven Spaß als Widerstand.

„Ich bin eine nicht binäre Bauchtanz-Performer*in. Auf der Bühne liebe ich die glamouröse Mischung aus Burlesque und Bauchtanz. Nennen wir es glam cunty“, erzählt Prince Emrah, queere Geflüchtete, Drag-Mutter*Vater, Tänzerin, DJ und Aktivistin. „Ich tanze auch auf privaten Geburtstagen oder Hochzeiten. Dann schauen die Leute nach unten und denken, dass ich weiblich bin. Aber sobald sie nach oben schauen, denken sie, ich bin männlich. Ich mag die Verwirrung.“ Für die in Turkmenistan geborene Künstlerin, die sich mit „er“ oder „sie“ ansprechen lässt, ist Drag nie nur Performance gewesen, sondern immer auch ein Akt des Widerstands – gegen die Gewalt, die sie erfahren hat.

Denn Emrah wurde nicht einfach Dragkünstlerin. Emrah musste es sich erkämpfen. In Turkmenistan, wo queere Identitäten kriminalisiert und verfolgt werden, wurde sie von der eigenen Familie verstoßen. „Ich weiß nicht, wie oft sie mich geschlagen haben. Wie oft sie mir in die Hand geschnitten haben, weil meine Gestik zu feminin war. Weil ich wie eine Frau tanzte.“ In Turkmenistan drohte Emrah eine Gefängnisstrafe. Die Flucht führte über die Türkei schließlich 2015 nach Deutschland. „Ich bin nicht aus Spaß hierhergekommen“, sagt Emrah. „Es ging ums Überleben.“ Doch auch hier war das Ankommen in der Szene alles andere als selbstverständlich.

In einer Szene, die oft dominiert wird von weißen, cis-männlichen Dragqueens mit Zugang zu Bühnen, Netzwerken und Geld, blieb Emrah zunächst außen vor. „Meine Performance als Belly Dancer wurde nicht anerkannt als Drag – für mich war alles doppelte Arbeit, denn als Flüchtling hat man wirklich nur begrenzte Ressourcen.“ Doch sie fand ihren eigenen Weg und schuf dabei einen alternativen Raum für die Community.

„Es geht um das Recht, auf der Bühne Fehler machen zu dürfen.“
Bild: Samet Durgun
Prince Emrah gründete 2018 das QueerBerg Collective – einen Zusammenschluss von queeren geflüchteten Künstler*innen, trans* und nicht binären Performer*innen

2018 gründete Emrah das QueerBerg Collective – einen Zusammenschluss von queeren geflüchteten Künstler*innen, trans* und nicht binären Performer*innen. „Es brauchte ein Zuhause für uns“, so Emrah. Eines, in dem es nicht um Perfektion gehe, betont sie. „Es geht um das Recht, auf der Bühne Fehler machen zu dürfen.“ Auch in der Muttersprache zu performen sei Selbstermächtigung. „Ich sag immer: Du musst nicht auf Englisch performen. Emotionen sind aussagekräftig genug. Das Publikum wird’s verstehen, wird‘s fühlen.“

Lip-Sync-Drag, ade!

Mit dem Format „Berlin’s Next Top Quing“ (Finale im Dezember 2025) schafft QueerBerg eine Alternative zum kommerziellen Drag-Mainstream. Der Begriff „Quing“ – eine Fusion aus Queen und King – steht dabei sinnbildlich für das Aufbrechen binärer Geschlechterlogiken. In der Show treten Performer*innen aller Gender in Upcycling-Looks auf, die aus wiederverwerteten Materialien und Fundstücken bestehen, und werden von Juror*innen aus verschiedenen Generationen bewertet. Dabei steht das Talent weniger als Kostüm und Glamour im Mittelpunkt. „Wir wollen keinen klassischen Lip-Sync-Drag“, so Emrah.

„Wir müssen uns gegenseitig unter die Arme greifen. Drag bekommt oft kein Geld, es ist eine marginalisierte Kunstform.“

Auch Performer*in Lilith the Quing glänzt auf den alternativen Bühnen – in funkelnden Kleidern aus Supermarkttüten und mit dämonischem Charisma. Die Liebe zu ausgefallenen Kostümen hat Lilith aus der Karnevalkultur der eigenen Heimat, Brasilien, mitgebracht – und mit ihr ein Verständnis für kollektives Überleben durch Teilen. In den FLINTA*- Drag-Zirkeln, in denen Lilith aktiv ist, werden Materialien untereinander getauscht und gegenseitig wird Hilfe angeboten. „Wir müssen uns gegenseitig unter die Arme greifen. Drag bekommt oft kein Geld, es ist eine marginalisierte Kunstform.“

Für Lilith sind kommerzielle Formate wie „Drag Race“ vor allem ein Produkt für ein nicht queeres Publikum: „Wer geht denn zu diesen Shows? Wer kann sich das leisten? Es geht darum, unser Queersein einem heterosexuellen Publikum schmackhaft zu machen.“ AFAB (bei der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben worden) und Menschen mit Vaginas seien in kommerziellen Drag-Spaces häufig nicht willkommen. „Und wenn wir es sind, verdienen wir nicht so viel wie eine Queen. Und dafür gibt es keinen anderen Grund als die Tatsache, dass ich keinen Penis habe.“

Ursprünglich wollte Lilith Dragking sein, um die eigene Wut auf das heteronormative Patriarchat zu kanalisieren – entschied sich aber dann, einen anderen Weg einzuschlagen: nicht das Männliche zu imitieren, sondern Männlichkeit neu zu denken. „Ich mag, dass Lilith ein weiblich konnotierter Name ist, aber auch eine Figur, die als Rebellin gegen das Patriarchat bekannt ist. Eine dämonisierte Ikone.“ Lilith sei nicht menschlich – Lilith sei „postmenschlich“ und „the sweetest demon“. In einer Welt, die alles Queere, Nichtmännliche, Nichtweiße verteufelt, fühle sich diese Inszenierung nur richtig an.

„Die Leute sind verwirrt, wenn sie nicht wissen, welches Gender ich bin. Das gefällt mir.“

„Ich habe einen Schnurrbart, aber ich habe auch einen großen Mund. Ich bin nicht unbedingt maskulin, aber auch nicht sehr feminin. Ich habe Brüste und gleichzeitig einen Pack (Anm. d. Red.: Polsterung in der Unterwäsche). Die Leute sind verwirrt, wenn sie nicht wissen, welches Gender ich bin. Das gefällt mir.“

Nach der Pandemie habe sich Drag neu erfunden, sagt Lilith. Grenzen verschwimmen, neue Definitionen entstehen. „Wir haben die Bedeutung des Begriffs erweitert – und was Drag sein kann.“ In diesem Raum müsse man Fehler machen dürfen, sich ausprobieren dürfen, ohne ausgeschlossen oder als Anfänger*in abgestempelt zu werden.

Diesen Gedanken trägt auch Miss Steak weiter – ein*e Dragquing, der*die Humor und Ironie als Waffe einsetzt. Für Miss Steak ist Drag kein Rollenwechsel, sondern eine Einladung, sich widersprüchlich und fehlerhaft zu zeigen – und gerade dadurch Macht zurückzuerobern. Sein*ihr Weg begann 2019 in Berlin, parallel zur eigenen Transition. „Ich habe mich immer gefragt, warum ich nie Vorbilder hatte – weder als trans* maskuline Person noch als Dragperformer“, schreibt Miss Steak. Erst die Vielfalt der Berliner Szene öffnete neue Möglichkeiten: „Ich bin kein Dragking, keine Dragqueen – ich bin eine Dragkuh. Ein Drag Creature. Oder eben: Miss Steak – ein großer Fehler.“

Miss Steak kommt auf die Bühne mit „zwei dicken Euter Brüsten, die sogar spritzen können“, wandelbaren Kostümen, in denen die sogenannten Geschlechtsmerkmale einfach umgesteckt werden können.

Bild: Daniel Paikov
Miss Steak bei einer Performance im SO36

Selbstakzeptanz, Gemeinschaft und Freude in der eigenen Queerness

„Ich will, dass die Leute lachen – und dann das Lachen im Hals stecken bleibt. Weil es eigentlich nicht lustig ist.“ Trotzdem würden Publikum und Performer gemeinsam über das Lachen „Queer Joy“ – also Selbstakzeptanz, Gemeinschaft und Freude in der eigenen Queerness – fühlen können und einander verstehen, ohne viel Erklärung. „Persönlich empfinde ich diese Freude am meisten, wenn ich einfach auf eine Bühne treten darf und komplett loslassen kann, konträr zu meiner Person außerhalb von Drag“, so Miss Steak. Das Schlüpfen in Rollen sei spannend und zeige, dass Veränderung ständig möglich ist.

„Als trans* Person wird allein mein Körper politisiert und meine Existenz argumentiert. Dazu kommen Debatten, dass Drag verboten sein sollte.“

Als Dragkuh unterwandert Miss Steak dabei auch, was die Szene selbst oft unbewusst reproduziert. Miss Steak spricht über Transfeindlichkeit, das Recht auf Abtreibung, Tierquälerei und Konsum. „Als trans* Person wird allein mein Körper politisiert und meine Existenz argumentiert. Dazu kommen Debatten, dass Drag verboten sein sollte“, schreibt Miss Steak in einem E-Mail-Interview. Umso wichtiger sei es, die Kunstform zu schützen und Queer Joy gegen die Konventionen zu praktizieren.

Auch Seliquere, Performerin „aus dem Hause Nancy Nutter“, wie sie sagt, bewegt sich außerhalb konventioneller Parameter. Die Tänzerin, die in Taiwan aufgewachsen ist, bringt eine dekoloniale Perspektive ein. Als androgyner Tomboy in einem nicht westlichen Kontext war ihr Dasein jenseits binärer Geschlechternormen kein Widerspruch, sondern Alltag – erst der eurozentrische Blick kreiere das Unkonventionelle. Genau diese extrem-binären Geschlechterrollen mag sie gerne zur Parodie machen.

Bild: Javier Alejandro Cerrada
Seliquere will extrem-binären Geschlechterrollen gerne zur Parodie machen
„Nenn mich Genderfucker!“

Ihr Name – abgeleitet vom lateinischen liquere – verweist auf ein fluides Selbstverständnis. „Es langweilt mich, nur auf einer Seite irgendeiner Binärität zu stehen“, sagt Seliquere, die sich mal als Connor, mal als Connie Lingus inszeniert: als Cowboy-Karikatur mit Wrestling-Faible oder als hyperfeminine Diva mit Intellekt. „Nenn mich Genderfucker“, sagt sie und lacht. Aber auch innerhalb queerer Räume spürt Seliquere subtile Hierarchien. „Wir alle wollen Macht erleben, weil wir ihrer so oft beraubt wurden. Aber der Weg dorthin darf nicht darüber führen, andere zu unterdrücken. Wir brauchen gegenseitige Unterstützung.“

Dafür plädiert auch Emrah. „An manchen Orten hatte ich nie das Gefühl, dass ich wirklich willkommen bin“, sagt sie. „Wenn du nicht diese kommerzielle Show auf der Bühne abziehst, sehen sie dich nicht als Drag.“ Eine Dragkünstlerin fragte sie einst vor einer Show, was sie geplant habe. Daraufhin kommentierte eine andere schnippisch: „Was denkst du denn? Sie wird mal wieder einfach nur tanzen.“ Doch was als abwertender Kommentar gemeint war, ist Emrahs queere Superkraft. „Wie viel ich durchmachen musste, um ‚nur‘ tanzen zu können. Sie hatte keine Ahnung.“

Drag gegen die Marginalisierung

Die Künstler*innen sind sich einig: Auch eine Szene, die sich Diversität auf die Fahnen schreibt, bleibt nicht frei von Ausschlüssen. „Obwohl die Drag-Szene an sich schon progressiver ist als andere Kunstszenen, sehe ich noch viele Missstände“, so Miss Steak. Line-ups seien oft überwiegend weiß. Migrant*innen, Menschen mit Behinderungen oder Plus-Size-Performer*innen seien nach wie vor unterrepräsentiert. „Das Klischee von der weißen cis-männlichen Dragqueen herrscht auch hier noch teilweise vor – vor allem wenn es um Bookings, Sichtbarkeit und Räume geht.“

Auch innerhalb alternativer Drag-Formate spürt Miss Steak Schönheitsnormen. Als trans und Plus-Size-Quing werde man oft unterschätzt. „Ich kann, wenn ich mich gut dehne, in den Spagat springen – und nach der Show heißt es dann oft: Das hätte ich dir nicht zugetraut.“ Trotzdem sehen sie alle auch Hoffnung: Gerade nach der Corona-Krise sei die Szene aufgeblüht, neue Shows sind entstanden, Formate durchmischten sich – mit Clowns, Kabarettist*innen, Musiker*innen, Burlesque. „Ich hoffe sehr, dass es wieder mehr Möglichkeiten und Orte in Berlin gibt, die alle, die Drag machen wollen, unterstützen, ohne unsere Arbeit finanziell auszunutzen. Drag ist multidisziplinär, zeitintensiv und herausfordernd – wir sollten davon leben können“, so Miss Steak.

„Eine Revolution ohne das Aufbrechen der Geschlechterbinarität ist keine Revolution.“

Politische Verschärfungen, transfeindliche Tendenzen und steigende Lebenshaltungskosten bedrohen viele queere Räume. Umso wichtiger sei Drag als widerständige Kunstform. Oder wie Lilith the Quing sagt: „Eine Revolution ohne das Aufbrechen der Geschlechterbinarität ist keine Revolution.“

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