Drohende Ausweisung pro-palästinensischer Aktivist*innen: Eine Kultur der Angst

Die Berliner Innenverwaltung ist vorerst mit dem Versuch gescheitert, vier Aktivist*innen wegen ihrer Beteiligung an propalästinensischen Aktionen aus Deutschland auszuweisen. Der Fall der „Berlin 4“ steht exemplarisch für die zunehmenden ethnonationalistischen Tendenzen, die das Rechtssystem zu demontieren versuchen – eine Gefahr für Minderheiten wie LGBTIQ*. Kulturwissenschaftlerin Katrin M. Kämpf kommentiert
Nachdem Ende März durch einen Bericht in The Intercept bekannt wurde, dass vier Berliner Aktivist*innen aus palästinenser*innen-solidarischen Kontexten die Freizügigkeit (das Recht aller EU-Bürger*innen, sich innerhalb der EU frei zu bewegen, in einem anderen Mitgliedstaat zu wohnen, zu arbeiten und zu studieren, Anm. d. Red.) entzogen bzw. sie ausgewiesen werden sollten, musste sich der Staatssekretär für Inneres, Christian Hochgrebe, im Senatsinnenausschuss rechtfertigen. Es sei zwar richtig, dass keine*r der Aktivist*innen – drei davon EU-Bürger*innen, eine trans* Person aus den USA – wegen einer Straftat verurteilt worden sei. Sie seien aber – in nicht näher spezifizierter Weise – an einer gewalttätigen Besetzungsaktion an der FU beteiligt gewesen. Zusammen mit anderen vorliegenden „Erkenntnisse[n]“ genüge das, ihre Anwesenheit als schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland anzusehen.
Gegen Vorwürfe des trumpistischen Vorgehens wehre er sich entschieden. Da hier nicht das Strafrecht angewendet worden sei, sondern das Ausländerrecht, gebe es hier gar keine Unschuldsvermutung. Überdies gehe es nicht darum, ob Einzelnen irgendetwas nachgewiesen werden könne. Was während der FU-Besetzung in der Gruppe begangen worden sei, genüge zur Begründung der schweren Gefahr für die Sicherheit.
Das Gericht zweifelte mittlerweile die Rechtmäßigkeit der Ausweisungen durch die Berliner Innenverwaltung an. Die Maßnahmen stützten sich allein auf polizeiliche Anzeigen ohne konkrete Anklagen, was nicht ausreichend war.
Der Fall ist Teil einer Reihe von äußerst repressiven Maßnahmen, die insbesondere Palästinenser*innen und mit ihnen solidarische Menschen treffen. Seit Oktober 2023 wurden alle Asylverfahren von Menschen aus Gaza auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Im April dieses Jahres wurde beschlossen, Abschiebungen nach Griechenland wieder aufzunehmen, obwohl den Abgeschobenen dort menschenunwürdige Zustände drohen. Ein Beschluss, der viele Palästinenser*innen betreffen wird. Die massive Polizeigewalt auf Demonstrationen gegen die genozidale Gewalt in Gaza hat international für Kritik gesorgt.
„Als ließe sich Antisemitismus einfach abschieben“
Aber auch in anderen Kontexten herrscht ein repressives Klima, das von fragwürdigen, in Teilen ethnonationalistischen Rechtsauslegungen geprägt ist. In der Bundestagsresolution vom November 2024, „Nie wieder ist jetzt“, gaben sich die Parlamentarier*innen selbst die Aufgabe, Antisemitismus von nun an primär repressiv zu bekämpfen – anstatt beispielsweise mit Bildungsangeboten oder Maßnahmen aus dem Repertoire der transformativen Gerechtigkeit – und dafür insbesondere das Straf-, Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht zu nutzen. Als ließe sich Antisemitismus ausgerechnet aus Deutschland einfach so abschieben.
Angehörige der kurdischen Befreiungsbewegung wiederum werden schon seit Jahren mit Einschränkungen der Freizügigkeit und Abschiebungen bedroht. Die* nicht binäre Antifaschist*in Maja T. wurde im Juni 2024 rechtswidrig nach Ungarn ausgeliefert. Bayern hat die Klimaaktivistin und Mitanmelderin von Demos gegen rechts, Lisa Poettinger mit einem defacto Berufsverbot als Lehrerin belegt. In einem der Prozesse nach den G20-Demonstrationen fällte das Gericht im September 2024 ein Urteil, das besagt, dass Teilnehmer*innen von Demos für die Taten anderer Teilnehmer*innen zur Verantwortung gezogen werden können, auch wenn sie selbst nicht tätlich geworden sind: Ein massiver Eingriff in die Versammlungsfreiheit und gefährlicher Präzedenzfall.
Im Wahlkampf wiederum forderte Merz, straffällig gewordene Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft sollten ausgebürgert werden können. Nicht minder völkisch das Wahlprogramm der AfD. Und laut aktuellem Koalitionsvertrag soll Kriminalität aufenthaltsrechtlich bekämpft und somit Menschen ohne deutschen Pass in einem rechtlichen Kontext ohne Unschuldsvermutung und Resozialisierungsgebot behandelt werden. Von der fortschreitenden Brutalisierung des Grenzregimes gar nicht zu reden … Auch das Selbstbestimmungsgesetz, das die CDU/CSU am liebsten komplett abschaffen würde, soll im Namen der Sicherheit von (cis) Frauen und (cis) Kindern evaluiert werden.
Zusammengenommen ist es vielleicht nicht primär der Bruch der – vermeintlich – großen Brandmauer, sondern viel mehr die vielen kleinen Dammbrüche, die gegenwärtige Faschisierungsprozesse ausmachen.
Zusammengenommen ist es vielleicht nicht primär der Bruch der – vermeintlich – großen Brandmauer, sondern viel mehr die vielen kleinen Dammbrüche, die gegenwärtige Faschisierungsprozesse ausmachen. In der Versicherheitlichung häufen sich binäre Verständnisse von Geschlecht und Nationalität. Die Freund/Feind-Logiken des War on Terror und ethnonationalistische Tendenzen produzieren eine massive Unsicherheit: Welche Demo kann man noch besuchen? Für welche Social-Media-Aktivitäten wird wer wie sanktioniert? Ist Aktivismus in der Freizeit mit dem Beruf kompatibel? Kann man für ein „Like“ abgeschoben werden? Wird mein Geschlechtseintrag Merz überleben …?
Für all diejenigen, deren Sicherheit nicht mitgedacht und schon gar nicht mitgemeint ist, entsteht ein Chilling Effect und ein Klima der Angst, das politische Teilhabe für immer mehr Menschen unmöglich macht.
Katrin M. Kämpf ist Kulturwissenschaftlerin, die zu den Schwerpunkten Queer Studies sowie Science & Technology Studies lehrt und forscht. 2021 veröffentlichte sie das Buch „Pädophilie: Eine Diskursgeschichte“ über den Pädophilievorwurf als Machtinstrument.

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