Paul B. Preciado über seinen Berlinale-Film „Orlando“

„Ein politischer Exorzismus"

22. Feb. 2023 Annabelle Georgen
Bild: Les Films du Poisson
Filmstill aus „Orlando, ma biographie politique" („Orlando, My Political Biography") von Paul B. Preciado

Einer der am meisten erwarteten Filme der 73. Berlinale war „Orlando, My Political Biography“. In dieser experimentellen Doku erzählt der berühmte trans* Philosoph Paul B. Preciado von seiner eigenen Transition, aber auch von der Geschichte der trans* Community.

Dabei orientierte sich Preciado an der Erzählform aus Virginia Woolfs Roman „Orlando“. Denn, wie er in der Ankündigung zu seinem Film sagte, „fucking Virginia Woolf wrote already my biography". Am 24. Februar wurde „Orlando, My Political Biography" bei den Teddy Awards, dem queeren Filmpreis der Berlinale, als beste Doku ausgezeichnet. SIEGESSÄULE-Kultur-Redakteurin Annabelle Georgen traf Preciado während der Filmfestspiele zum Gespräch

Ursprünglich wollte Arte eine Doku über dich drehen. Du hast das abgelehnt. Dabei kam dir spontan die Idee, selbst einen Film zu drehen, der deine Geschichte, die Geschichte von Orlando und die Geschichte der trans* Community miteinander verbindet. Warum wolltest du nicht, dass jemand eine Doku nur über dein Leben macht? Es gibt nichts Normativeres als zu denken, dass das Leben mit der Geburt beginnt, dann kommt die Schule, die Ehe, die Arbeit und irgendwann das Grab. Alles ist bereits vorgezeichnet. Ich wollte mein Leben nicht auf diese Weise erzählen und ich hatte auch keine Lust darauf, dass das jemand anderes macht.

In Virginia Woolfs Buch „Orlando" reist die Hauptfigur durch verschiedene Epochen und wechselt dabei auch das Geschlecht. Wann hast du das Buch für dich entdeckt und welche Rolle hat es bei deiner Identitätsfindung gespielt? Wie viele habe ich das Buch als Teenager im Unterricht für englische Literatur kennengelernt. Mir war zu dieser Zeit noch nicht bewusst, dass ich trans bin. Als Kind, das in den 70er-Jahren in Spanien geboren war, kannte ich das Wort trans nicht einmal. Aber „Orlando" hat mir gezeigt, dass mein Leben vielleicht auch so sein könnte wie das der Figur in diesem Buch. Vor allem war es nicht die übliche medizinische und pathologische Geschichte, sondern eine völlig romanhafte und poetische Erzählung mit unglaublichen Reisen und Abenteuern. Das war einfach großartig. Ich habe mich sofort mit Orlando identifiziert.

Warum hast du gleich 25 Schauspieler*innen und zwei Hunde ausgewählt, um Orlando zu verkörpern? Da sich die Geschichte von Orlando über fast 500 Jahre erstreckt, war es natürlich klar, dass verschiedene Personen die Figur in ihren unterschiedlichen Lebensabschnitten verkörpern würden. Es haben sich dann sehr viele Leute für die Rolle beworben. Als wir das Casting durchführten und wir die zahlreichen Orlandos sahen, wurde mir klar, dass möglichst viele von ihnen im Film mitspielen mussten.

Bild: Pierre et Gilles, Sunset on Uranus
Paul B. Preciado, portraitiert von den schwulen französischen Künstlern Pierre et Gilles
„Ich habe versucht zu zeigen, dass all diese Orte auch Räume für Politisierung, Kollektivierung und Revolte sind."

Es gibt drei zentrale Szenen im Film. Sie spielen sich auch in drei verschiedenen Räumen ab, die für viele Leute, die eine Transition durchlaufen, entscheidend und manchmal sogar unvermeidlich sind: eine psychiatrische Praxis, ein OP-Saal und ein Amtsgebäude ... Das sind Räume, in denen man sich auf sehr individuelle und einsame Weise mit der Macht konfrontiert fühlt. Ich habe versucht zu zeigen, dass all diese Orte auch potenzielle Räume für Politisierung, Kollektivierung und Revolte sind. Ich habe diese Erfahrung gemacht, als ich meine eigene Transition begann. Ich lebte damals in New York und besuchte eine Klinik für LGBTIQ*, das Callen-Lorde Community Health Center. Das Wartezimmer war eine Welt für sich. Man sprach dort über Hormone und die Patient*innen tauschten untereinander Buch- und Filmtipps aus. Dieses Wartezimmer war ein Ort der Produktion von Trans- und LGBTIQ*-Wissen. Für den Film habe ich mich intensiv mit Spiel- und Dokumentarfilmen auseinandergesetzt, die bereits über trans* Personen gedreht wurden. Die Operationsszene ist dabei geradezu ein Klassiker. Sie ist immer sehr blutig und erschreckend. Daher wollte ich unbedingt, dass es in dem Film auch eine Operationsszene gibt, die aber komplett von den bisherigen Darstellungen abweicht. Diese Szene zu drehen, war für mich wie ein politischer Exorzismus.

„Ich versuche mit dem Film eine Art Weckruf zu erzeugen."

Was möchtest du mit diesem Film erreichen? Ich versuche mit dem Film eine Art Weckruf zu erzeugen. Die Leute sollen lernen, anders über die Dinge zu denken und sich von den vorherrschenden Erzählungen über Transidentität lösen: die Erzählung des Freaks, die pornografische Erzählung, die Erzählung von trans* Personen, wie sie in Horrorfilmen dargestellt werden usw. Ich möchte mit diesem Film möglichst viele erreichen. Er ist möglicherweise auch zugänglicher als meine Bücher.

Im Film wird auch über den Sexualforscher Magnus Hirschfeld gesprochen, der 1919 in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft eröffnete. Spielt Berlin für dich eine besondere Rolle? Ich habe anfangs sogar darüber nachgedacht, den Film in Berlin zu drehen. Die Geschichte der Stadt ist eng verbunden mit der Geschichte und Erforschung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Leider ist von Hirschfelds Institut heute fast nichts mehr übrig. Außerdem fanden die Dreharbeiten zum Film während der Pandemie statt, sodass es kompliziert war zu reisen. Daher habe ich darauf verzichtet, „Orlando" in Berlin zu drehen. Dennoch ist der Film auch eine Hommage an Magnus Hirschfeld, der für mich eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist. Auch aus diesem Grund war die Berlinale der richtige Ort, um diesen Film zu präsentieren.

Bild: Les Films du Poisson
Filmstill aus „Orlando, ma biographie politique" („Orlando, My Political Biography") von Paul B. Preciado

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