Interview mit Musiker*in Karin Dreijer

Fever Ray: „Liebe muss man lernen"

12. Apr. 2023 Christina Mohr
Bild: Nina Andersson

Karin Dreijer aka Fever Ray meldet sich mit dem neuen, äußerst gelungenen Album „Radical Romantics“ zurück. Wir sprachen mit dem*der nicht binären Künstler*in aus Schweden

Karin, hast du ein bestimmtes Ritual, mit dem du deinen Tag beginnst? Haha, ja – normalerweise nehme ich mir morgens gern ein bisschen Zeit, bevor ich mich an die Arbeit mache. Mache zum Beispiel einen kurzen Spaziergang oder zünde eine Kerze an ... ein kleines Ritual ist gut, selbst wenn es nur eine Minute dauert. Aber im Moment ist das schwierig, weil wir Promo für das Album machen müssen, die Tour vorbereiten und so weiter.

Die letzte Tour zum Album „Plunge“ musste wegen gesundheitlicher Probleme abgesagt werden, du hattest Panikzustände und standest kurz vorm Burn-out. Wie gehst du an die anstehende Tour heran? Die „Plunge“-Tour war wirklich wahnsinnig anstrengend, es sollte über fünfzig Shows in ein paar Monaten geben. Die Tour zu „Radical Romantics“ ist anders geplant, nicht so stressig und mit längeren Pausen zwischen den einzelnen Shows.

„Wenn sich alle positiven Kräfte zusammentun, können wir die Welt vielleicht doch noch retten."

Du hast zwei Töchter – was gibst du ihnen mit? Meine ältere Tochter ist schon zwanzig, da ist mein Einfluss inzwischen eher gering (lacht). Mir war und ist wichtig, Machtstrukturen aufzuzeigen, meinen Töchtern zu vermitteln, wie stark sich strukturelle Unterdrückung auswirkt. Aber auch, dass wir gemeinsam etwas verändern können. Wenn sich alle positiven Kräfte zusammentun, können wir die Welt vielleicht doch noch retten.

Du definierst dich als nicht binär, verwendest die Pronomen they/them – gibt es in Schweden queere Szenen, mit denen du dich verbunden fühlst? Oh ja! Die Szenen in Stockholm sind klein und alle sind miteinander verbunden. Es ist sehr familiär.

Fällt es dir leicht, deine Arbeit „loszulassen“? Kommst du damit klar, wenn Journalist*innen deine Musik bewerten? Beziehungsweise liest du überhaupt Reviews? Manchmal ja, manchmal nein. Ich neige dazu, schlechte Kritiken so zu erklären, dass der*die Reviewer*in meine Musik eben nicht verstanden hat, haha. Weil die Aufnahmen zu „Radical Romantics“ schon seit Frühsommer 2022 abgeschlossen sind, hatte ich genug Zeit, mich von den Songs „abzunabeln“. Schließlich bin ich ökonomisch davon abhängig, dass meine Arbeit veröffentlicht und verkauft wird – also ja, ich kann loslassen.

Hat die Pandemie die Arbeit am Album beeinträchtigt? Nicht wirklich, weil wir schon in 2019 mit ersten Aufnahmen begonnen hatten. Es gab keinen echten Lockdown in Schweden, aber durch Covid wurde alles schwieriger. Zum Beispiel war nicht immer klar, ob es erlaubt ist, gemeinsam im Studio zu sein, und solche Dinge. Aber Studioarbeit hat sowieso immer etwas Klaustrophobisches. Ich war jedenfalls froh, dass ich jeden Morgen mit dem Fahrrad ins Studio fahren konnte und etwas zu tun hatte.

„Radical Romantics“ ist ein Konzeptalbum über Liebe ohne echte Liebeslieder – würdest du zustimmen? Während der Aufnahmen habe ich bell hooks‘ Buch „All About Love“ gelesen. In dem Buch beschreibt hooks die soziologischen und politischen „Rahmenbedingungen“, die das, was wir Liebe nennen, definieren. Das hat mich stark beeinflusst, vieles ergab auf einmal neuen Sinn. Zum Beispiel, dass to love ein Verb ist, eine Handlung. Nichts, das wir besitzen können wie einen Gegenstand. Lieben muss man lernen – und zuerst muss man die eigenen Bedürfnisse und Grenzen erkennen. Man muss seine Wünsche kommunizieren, sonst verstrickt man sich in Missverständnissen.

Die bisher veröffentlichten Videos zu den neuen Songs zeigen wieder sehr deutlich, dass das Visuelle bei Fever Ray eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die Musik. Denkst du dir zuerst Charaktere aus, für die du dann Songs schreibst? Es ist immer ein langer Prozess – deswegen dauert es auch immer so lange, bis ich ein neues Album herausbringe. Meistens habe ich schon zu Beginn eine sehr klare Vorstellung von den Songs, beispielsweise wie die Stimme klingen soll, die die Story performt ...

… ist es immer deine Stimme, die auf „Radical Romantics“ zu hören ist? In einem Fanforum bin ich auf die Frage gestoßen, ob vielleicht dein Bruder Olof auf dem Stück „Kandy“ singt ... Es ist meine Stimme – ich habe einen sehr großen Stimmumfang, kann von Falsetto bis in ganz tiefen Lagen singen. Und natürlich nutze ich Voice Processing, damit lassen sich erstaunliche Effekte erzielen. Wenn das musikalische Gerüst steht, beginne ich mit Martin (Falck, Grafikdesigner und Drehbuchautor, Anm. d. Red.) an den Arbeiten für die Visuals. Für „Radical Romantics“ haben wir den pinkfarbenen Charakter („Romance“) und den „Office Drone“ entwickelt, die beide im Video zu „Kandy“ zu sehen sind.

Sind die verschiedenen Masken und Stimmen von Fever Ray ein Mittel, um dich – Karin Dreijer – dahinter zu verstecken? Sagen wir, es sind Erweiterungen der Performance. Man performt ja auch im Alltag verschiedene Rollen, Gender zum Beispiel oder berufliche Aufgaben.

„Ein Song ist ein guter Weg, um Rache zu nehmen."

Einer der beeindruckendsten Songs ist „Even It Out“, in dem Eltern Rache für ihr in der Schule gemobbtes Kind nehmen wollen – an einem anderen Kind. Das ist ganz schön krass! Also es gibt schon einen Unterschied zwischen Kunst und Realität, das möchte ich betonen! Aber hinter diesem Song steht tatsächlich, dass meine Tochter in der Schule auf schlimmste Weise gemobbt wurde. Es ist inzwischen sechs Jahre her, und wir haben etwas Abstand gewonnen. Damals war es absolut furchtbar, es gab sexistische, transfeindliche, gewalttätige Übergriffe, und am Ende musste meine Tochter die Schule wechseln. Es gab keine andere Lösung. Die Erwachsenen, die Lehrer*innen haben nicht eingegriffen, es war skandalös. Ich denke, dass Rache sehr wichtig ist, um dein Selbstwertgefühl zurückzugewinnen – natürlich nicht mit physischer Gewalt. Aber ein Song ist ein guter Weg, um Rache zu nehmen.

Dein Bruder Olof hat an mehreren Songs von „Radical Romantics“ mitgearbeitet, eure erste Zusammenarbeit seit neun Jahren – was läuft bei den Aufnahmen zu Fever-Ray-Songs anders als bei The Knife? Olof und ich verstehen uns künstlerisch perfekt. Er weiß genau, was ich meine, wenn ich einen bestimmten Sound oder eine Stimmung haben will. Aber es läuft nicht so demokratisch ab wie bei The Knife, wo wir buchstäblich über jede einzelne Note gemeinsam entscheiden. Bei Fever Ray bin ich der alleinige Boss.

Fever Ray: Radical Romantics (Rabid/PIAS), jetzt erhältlich

Fever Ray live in Berlin im Rahmen von „Tempelhof Sounds presents“,
02.06., 17:15, Waldbühne

Bild: Nina Andersson

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