Kommentar zum Berliner CSD 2022

Ghoul of Stonewall

12. Aug. 2022 Dirk Ludigs
Bild: Brigitte Dummer

Der Berliner CSD e.V. versuchte dem diesjährigen Pride einen besonders diversen Anstrich zu geben. Damit scheiterte er kläglich findet SIEGESSÄULE-Autor Dirk Ludigs

Der frühere SIEGESSÄULE-Chefredakteur Dirk O. Evenson kritisiert Deutschland in seiner Twitter-Feed seit Jahren als eine „Republik in Aspik – ein Land der Bürokratie, der Prozesse und Regeln (...), das Liebeskind einer Dreiecksbeziehung aus „Brazil“, Kafkas „Prozess“ und „Täglich grüßt das Murmeltier“.

Wer wissen will, ob die institutionalisierte queere Community der deutschen Hauptstadt eine „Bewegung in Aspik“ ist, der fand auf dem diesjährigen Berliner CSD die Antwort: Aber sowas von!

3, in Worten: drei (!) Jahre hatten die Community, der dieser CSD ultimativ gehört, der CSD e.V. als sein Verwalter und der neue Vorstand als dessen Exekutive Zeit, eine – um es milde zu formulieren – in die Jahre gekommene Idee neu zu denken. Nochmals zum Mitschreien: DREI!

„Konzerne waschen sich pink, dieser CSD wusch sich queer“

Herausgekommen ist eine besonders miefige Form der Mogelpackung: Essig in alten Schläuchen! Wenn dieser CSD 2022 irgendetwas war, dann noch unpolitischer, noch mainstreamiger, noch weniger queer, noch weißer, noch weniger glamourös als die CSD-Paraden davor. Eigentlich verleiht selbst ein Verriss diesem Lindwurm der Belanglosigkeit schon zu viel Ehre.

Das hat, neben der fehlenden Fantasie einer Berliner „Bewegung in Aspik“, vor allem damit zu tun, dass der neue Vorstand mit der Kritik der letzten Jahre genauso umgegangen ist, wie ein Konzern, dem vorgeworfen wird, zu wenig divers zu sein. Konzerne waschen sich pink, dieser CSD wusch sich queer, was leider absehbar und durch und durch in die cis-weiße Hose ging.

„Im CSD-Zirkus der Vielfalt durften sich zwei der marginalisiertesten Gruppen einen Zirkuswagen teilen."

Um Diversität bemüht, die der Verein gar nicht hat, ließ der CSD e.V. gleich vier eigene Wagen voranrollen. Einer für alle und drei für die ausgemachten Minderheiten. Einen für „Mental Health“, einen für „FLINTA*“ und einen für „Trans/PoC“. Ernsthaft: Trans/PoC! Nicht für „trans People of Color“, wie ich in meiner gutmenschlichen Naivität zuerst falsch las, nein: Im CSD-Zirkus der Vielfalt durften sich zwei der marginalisiertesten Gruppen einen Zirkuswagen teilen. So viel Großzügigkeit kann man sich gar nicht ausdenken.

Kein Wunder, dass es auf der Hauptbühne nicht mehr ganz so großzügig zugehen konnte. Die Laudatio von Sokee für die Aktivist*innengruppe „QTI*BIPOC United“, eine der drei Preisträger*innen des CSD-eigenen „Soul of Stonewall Award“ wurde „wegen des dichten Programms“ vom Vorstand in letzter Minute abgesagt. Sorry, the Show must go on...

Auch für ein Drei-Minuten-Statement ghanaischer Aktivist*innen reichte auf der großen Bühne die Zeit nicht. Die kämpfen auch nur gerade um das Überleben der queeren Community eines Landes knapp von der Größe Polens gegen einen der queerfeindlichsten Gesetzentwürfe des Planeten. Stattdessen wurden ihnen drei Minuten auf einem der CSD-Minderheitenzirkuswagen angeboten. Sie sind dann nicht hingegangen, warum auch? Drei Minuten gegen Techno-Mucke anschreien für fünfzig Leute? Entwürdigend ist es zuhause schon genug.

„Sinnbild für den Zustand der Berliner 'Bewegung in Aspik': 96 im Stau steckengebliebene, vor sich hin stinkende Privilegienbusse"

Wenn einem QTI*PoC schon egal sind, dann kann es nicht verwundern, dass auch das Klima scheißegal ist. Oder warum findet es niemand aus der „Bewegung in Aspik“ merkwürdig, 30-Monate vor dem Verfehlen des 1,5-Grad-Ziels mit 96 Trucks für elf Stunden bei 130 Dezibel durch die Berliner Innenstadt zu dieseln? Ist in drei Jahren wirklich niemand auf die Idee gekommen, ein Spaßgesellschaft-Loveparade-Konzept in Frage zu stellen, das aus einer Zeit stammt, in der Gerhard Schröder Hoffnungsträger war? Ein Zwei-Klassen-Konzept, das uns trennt in die mit den Bändchen zum Mitfahren und das Fußvolk ohne?

Andererseits, ein besseres Sinnbild für den Zustand der Berliner „Bewegung in Aspik“ kann man sich auch nicht vorstellen als 96 im Stau steckengebliebene, vor sich hin stinkende Privilegienbusse. Und natürlich hat der Wahnsinn Methode, wo sonst sollten so diverse Sponsoren wie Bayer (Glyphosat), Amazon (Gewerkschaftskiller Jeff Bezos) oder Vattenfall (90 Prozent Kohlestrom in Deutschland) ihre Logos anpappen?

Da ist es denn am Ende fast noch eine Petitesse, dass der Berliner CSD e.V. sich weigert, dem deutschen Gesicht der Transfeindlichkeit, Alice Schwarzer, einen 2003 überreichten Zivilcourage-Preis für ihr Lebenswerk abzuerkennen, mit der hanebüchenen Begründung, man wolle der deutschen Ober-Terf keine mediale Aufmerksamkeit schenken. Wow, der neue Vorstand muss offensichtlich irgendwas mit Marketing studiert haben, anders kann man sich so viel Fachwissen nicht erklären.

„Der Berliner CSD ist nicht länger Queers auf Schaumwein, sondern hauptsächlich Heten auf Pils“

Nein, eine Parade der Peinlichkeit wird nicht zur politischen Demo, nur weil ein Transparent vorangetragen wird, auf dem steht: „Wir sind keine Parade.“ Das ist nur Neusprech, eine Verschleierung der Tatsachen, Queer-Washing eines abgehalfterten Events beyond repair, die Bankrotterklärung einer „Bewegung in Aspik“. Anstelle sich anzumaßen, anderen einen „Soul of Stonewall Award“ zu verleihen, hätte der Berliner CSD 2022 selbst den „Ghoul of Stonewall Award“ verdient. Rückgabe ausgeschlossen, mit schönem Gruß von Judith Butler!

Aber, Moment, war das Ganze am Ende nicht ein Erfolg? 600.000 Besuchende können sich doch nicht alle irren?

Paraden erreichen ihr Lebensende nicht, wenn keiner mehr kommt. Im Gegenteil, sie sterben, wenn ihr Charakter stirbt, sie ersticken an der Übermacht des Trivialen. Die Loveparade war vorbei, als dort nicht länger 50.000 Raver auf Ecstasy tanzten, sondern zwei Millionen Normalos auf Bier. Der Berliner CSD ist nicht länger Queers auf Schaumwein, sondern hauptsächlich Heten auf Pils.

Es wird den Berliner CSD e.V., dessen Vorstand und die ganze Berliner „Bewegung in Aspik“ nicht daran hindern, zum nächsten Murmeltier-Tag 2023 wieder genau das Gleiche zu organisieren.

Wo kämen wir denn sonst hin?

Bild: Marcus Witte
Dirk Ludigs

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