Konkrete Queerpolitik im Koalitionsvertrag? Fehlanzeige

Am 09. April wurde der neue Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vorgestellt, der einen ersten Ausblick auf die voraussichtlich nächsten vier Jahre Regierungszeit liefert. Der Titel des Programms kündigt wenig bescheiden an, „Verantwortung für Deutschland” zu übernehmen – doch trifft dies auch für die queerpolitischen Herausforderungen der Zeit zu?
Rückblickend waren aus queerer Perspektive die vergangenen Jahre der Regierungszeit unter der Ampelkoalition vielleicht doch gar nicht so unerfolgreich. Spätestens zum Wahlabend am 25. Februar 2025 dämmerte es auch den Engagiertesten und Zuversichtlichsten, dass die kommenden Jahre für LGBITQ*, Minderheiten und ihre Verbündeten weder leicht noch besser werden dürften.
In den letzten Wochen während der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD haben viele kaum noch an queerpolitische Ambitionen oder progressive Vorhaben gedacht. Vielmehr schien die Community beunruhigt, nervös und besorgt, was eine Regierungszeit unter einer von Friedrich Merz geführten Koalition bringen möge.
Wenig bis keine Inhalte für LGBTIQ*
Auf knapp 150 Seiten wird nun das Regierungsprogramm vorgestellt. Eine kurze Suchanfrage nach Schlagwörtern wie „queer” oder „LSBTIQ*” bestätigt das Unbehagen. „Queer” findet sich zwei Mal, Wörter wie trans* und intersexuell einmal, während die Begriffe schwul, lesbisch, bisexuell oder entsprechende Akronyme gar nicht auftauchen. Ähnlich gestaltete sich die Suche nach queerpolitischen Themen.
Forderungen aus dem Bundestagswahlkampf nach einer Änderung des Grundgesetzes, der Reform des Abstammungsrechts und Anerkennung von Regenbogenfamilien, einem bundesweiten Meldesystem für LGBTIQ*-feindliche Gewalt oder dem Vorhaben, die Lücken beim Schutz vor Konversionsmaßnahmen und beim Schutz intergeschlechtlicher Kinder zu schließen, tauchen im Entwurf nicht auf.
Eine vermeintlich harmlose Wortwahl, die jedoch den Scheinargumenten von transfeindlichen Akteur*innen, sowie der Rhetorik der AfD sehr ähnelt.
Die konkreten Abschnitten, die es zu queerpolitschen Anliegen gibt, lassen wiederum aufhorchen. So soll das Selbstbestimmungsgesetz bis spätestens Ende Juli 2026 evaluiert werden, wobei die Rechte von trans* und intersexuellen Personen gewahrt werden sollen. Jedoch mit der Anmerkung „einen besonderen Fokus auf die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche” sowie „den wirksamen Schutz von Frauen” zu achten. Außerdem soll im Rahmen der Namensrechtsreform „die bessere Nachverfolgbarkeit aller Personen bei berechtigtem öffentlichem Interesse“ in den Blick genommen werden. Eine vermeintlich harmlose Wortwahl, die jedoch den Scheinargumenten von transfeindlichen Akteur*innen, sowie der Rhetorik der AfD sehr ähnelt.
„Es wird deutlich, dass während der Koalitionsverhandlungen um den Punkt des Selbstbestimmungsgesetzes gerungen wurde“, erklärt Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans* e.V. gegenüber SIEGESSÄULE. Die Evaluation sei zwar auch im SBGG festgehalten, aber „es muss die Frage im Fokus stehen, ob das Gesetz die geschlechtliche Selbstbestimmung gemäß verfassungs- und europarechtlichen Grundsätzen stärkt. Es darf keine inhaltliche Verschiebung geben.”
Ähnlich kritisch fällt die Einschätzung von Erik Jödicke aus dem Bundesvorstand des LSVD aus. Er warnt davor, „das Selbstbestimmungsgesetz jetzt ohne Not anzufassen und Verschlechterungen zu riskieren. Trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen haben sich jahrzehntelang für diesen Meilenstein eingesetzt.” Ebenso irritiert sei er, dass die Änderung des Grundgesetzes zur Ergänzung der sexuellen und geschlechtlichen Identität als Schutzmerkmale unter Artikel 3, Absatz 3 nicht deutlicher erwähnt werde. Im Entwurf steht nur: „Wir verpflichten uns weiterhin, queeres Leben vor Diskriminierung zu schützen.“
„Nimmt die neue Regierung ihr Bekenntnis zu Gleichberechtigung ernst, dann wäre die Ergänzung des Grundgesetzes der nächste Schritt.”
Sören Landmann, Vorsitzender beim Aktionsbündnis gegen Homophobie e.V. und Co-Initiator des Bündnisses „Grundgesetz für Alle” findet klare Worte: „Nimmt die neue Regierung ihr Bekenntnis zu Gleichberechtigung, Diskriminierungs- und Gewaltfreiheit unabhängig der sexuellen Orientierung wirklich ernst, dann wäre die Ergänzung des Grundgesetzes der nächste logische Schritt.”
Kein Queer-Beauftragter oder Aktionsplan
Ähnlich schwammig wirkt der Koalitionsvertrag, beim Einsatz gegen Queerfeindlichkeit. So wollen die künftigen Regierungsparteien gegen LGBTIQ*-Feindlichkeit und Diskriminierung ein „Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken.” Eine Fortführung oder Weiterentwicklung des Aktionsplans „Queer leben” oder ein Queer-Beauftragter der Bundesregierung sind aber offenbar nicht geplant. Erik Jödicke, Mitglied im Bundesvorstand LSVD, kritisiert das scharf.
„Der Koalitionsvertrag bringt queere Geflüchtete in Lebensgefahr.“
Außerdem prangert er die abzusehenden Konsequenzen für queere Geflüchtete an: „Der Koalitionsvertrag bringt queere Geflüchtete in Lebensgefahr. In Afghanistan verfolgen, vergewaltigen und ermorden die Taliban systematisch LSBTIQ*. Hunderte queere Afghan*innen, denen Deutschland mithilfe des Bundesaufnahmeprogrammes die Rettung versprochen hat, droht durch eine unkoordinierte Beendigung des Programms eine Abschiebung.“
Queere Vereine, Initiativen und Akteur*innen sind sich einig: Der Koalitionsvertrag bleibt bei queerpolitischen Themen zu vage. Hümpfner betont, dass ein derartiger Stillstand bei queeren Themen im aktuellen gesellschaftlichen Klima ein falsches Signal sei. „Wir brauchen konkrete Maßnahmen, die Diskriminierung abbauen und eine Politik, die sich klar gegen menschenfeindliche Stimmungsmache stellt.”
„Wir brauchen konkrete Maßnahmen, die Diskriminierung abbauen und eine Politik, die sich klar gegen menschenfeindliche Stimmungsmache stellt.”
Andererseits klammern sich einige Expert*innen daran, dass der aktuelle Entwurf zumindest keine konkreten Rückabwicklungen von querpolitischen Errungenschaften aufweise. So meint auch Landmann: „Der Koalitionsvertrag hätte ein größerer Albtraum werden können.” Doch soll das der Anspruch für die nächsten vier Jahre Bundespolitik sein?
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