Liebeswerben bei Martini und Zigaretten: „Carol“
        In Cannes eroberte Todd Haynes mit seinem neuen Meisterwerk „Carol“ die Herzen des Publikums im Sturm. Ein unwiderstehlich elegantes Lesbendrama mit Cate Blanchett und Rooney Mara in den Hauptrollen
New York, Anfang der 1950er-Jahre, Vorweihnachtszeit in der  Spielzeugabteilung eines Kaufhauses. Mitten im Getümmel bahnt sich eine elegante Dame den Weg zu einer jungen Verkäuferin, um sich von ihr  beraten zu lassen – und schon ist es um die schüchterne Therese (Rooney  Mara) hinter ihrem Tresen geschehen. Zum Glück bietet sich die  Gelegenheit für ein Wiedersehen: Carol (Cate Blanchett) hat ihre Handschuhe vergessen. So beginnt die Lovestory zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Frauen, und spätestens bei ihrem ersten Treffen zum  Mittagessen – bei Martini und Zigaretten, wie sich das gehört – ist man  in die Geschichte und die Zeit eingetaucht, in der das homosexuelle  Liebeswerben vorsichtiger und die Sprache codierter war. 
Wie schon in  „Dem Himmel so fern“ (2002) gelingt es dem schwulen Regisseur Todd  Haynes meisterhaft, die Atmosphäre der 50er-Jahre in Technicolor,  Ausstattung und Musik wiederaufleben zu lassen, ohne dabei betulich oder museumshaft zu wirken. Man lässt sich auf das Tempo ein und schaut  gerne dabei zu, wie sich Carol und Therese langsam umkreisen und  einander annähern, mit vorsichtigen Fragen nach eventuellen Männern in ihrem Leben, subtilen Bemerkungen und Blicken, immer wieder Blicken (und ja: eine Sexszene gibt es auch). 
Patricia Highsmiths Roman „The Price of Salt“ von 1952 (deutscher Titel: „Carol oder Salz und sein  Preis“), der dem Film zugrunde liegt, wurde als erste lesbische  Liebesgeschichte berühmt, die nicht mit Tod und Verderben endet. Sie  bleibt aber nah an der damaligen Realität. Carol, die in Scheidung lebt,  droht das Sorgerecht für ihr Kind zu verlieren, weil sie lesbisch ist (ein Wort, das nie ausgesprochen wird!), und es ist klar, dass sie außer  von ihrer Exgeliebten Abby (Sarah Paulson) keine Unterstützung zu  erwarten hat. Und wenn Carol einer angewiderten Männerrunde erklärt,  dass sie sich von ihnen ihr Leben nicht verbieten lasse, ist das eben das „Ich bin lesbisch und das ist auch gut so!“ ihrer Zeit. 
Highsmith  (1921–1995), die Therese als ihr Alter Ego schuf, während Carol auf  einer ihrer Exloverinnen basiert, hasste bekanntlich alle Verfilmungen  ihrer Bücher. An „Carol“ hätte ihr zumindest eines gefallen, wie Phyllis  Nagy, die lesbische Drehbuchautorin des Films und langjährige Freundin  von Highsmith, dem Guardian sagte: „Sie wird gedacht haben: ‚Cate  Blanchett! Yeah! Das ist meine Carol!’” Und „Yeah! Rooney Mara!“ möchte  man hinzufügen, denn beide Schauspielerinnen haben für ihre wunderbare  Darstellung einen Oscar verdient. Wir mussten bis Dezember darauf  warten, aber jetzt ist er da: der Film des Jahres!
Carol, UK/USA/F 2015, Regie: Todd Haynes, auf DVD/Blu-Ray
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