Neues Gesicht an der Neuköllner Oper: Interview mit Rainer Simon

Seit dieser Saison hat die Neuköllner Oper einen neuen künstlerischen Leiter: Rainer Simon. Der 43-Jährige war lange Referent von Barrie Kosky an der Komischen Oper, lebt offen schwul und besitzt Fingerspitzengefühl für queere Themen. Wir trafen ihn zum Interview
Rainer, wieso passt du zur Neuköllner Oper? Zum einen habe ich großes Interesse an neuen experimentellen Musiktheaterformen. Hier bietet die Neuköllner Oper von ihrer Struktur viele Möglichkeiten. Vor allem, weil es kein festes Ensemble und kein festes Orchester gibt. Das bietet die Chance, immer wieder neue Formationen zusammenzustellen. Das andere ist meine Liebe zur Popkultur, von Operette, Musical bis zu zeitgenössischer Popmusik. Seit ihrer Eröffnung vor fast 50 Jahren steht die Neuköllner Oper ja für Zugänglichkeit und damit Niedrigschwelliges, da war das Populäre immer wichtig.
Haben LGBTIQ* ein offeneres Verhältnis zur Verbindung von Popkultur und dem, was als „ernste“ Kunst gilt? Es ist natürlich schwierig, für alle queeren Menschen auf der Welt zu sprechen. Vielleicht haben queere Menschen, schwule Männer, eine besondere Lust an dem, was nicht der Norm entspricht. Ich persönlich zum Beispiel liebe auf der Bühne Gegenrealitäten – das hängt bestimmt mit meiner Sexualität als schwuler Mann zusammen. Konkret geht es um die Stimmen, die anders klingen als jene in unserer Wirklichkeit. Musik, die nicht Mainstream ist, Gesten, Mimiken, die etwas anders erscheinen als das, was wir vorwiegend im Alltag sehen. Und da sind wir natürlich bei der Oper.
Du warst Referent von Barrie Kosky in seiner Zeit als Intendant der Komischen Oper. Er verbindet oft ernste Themen mit Entertainment, was in der Hochkultur hierzulande lange verpönt war ... Ich glaube, charakteristisch für queere Kultur ist es, große Themen mit einer Kombination aus Pathos und Ironie zu behandeln. Diese Verbindung von Tragischem und Komödiantischem. Auch die Vereinigung von Intellekt und Bauch habe ich durch Barrie, der aus Australien kommt, erst richtig kennengelernt. Ich war eher so klassisch deutsch akademisch sozialisiert. Barrie hat mir gezeigt, dass auch eine gute sinnliche Intuition zu einer tollen Produktion führen kann. Also weg vom Verkopften, sich überraschen lassen vom Bauchgefühl. Für meine Arbeit an der Neuköllner Oper bedeutet das, einen Fokus auf musikalisch-sinnliche Momente zu setzen.
„Charakteristisch für queere Kultur ist es, große Themen mit einer Kombination aus Pathos und Ironie zu behandeln.“
Queeres gab es ja vorher auch schon an der Neuköllner Oper, inwiefern wird sie mit dir queerer? Wir haben keine vorgefertigte queere Agenda, die Neuköllner Oper ist offen für viele Themen. Queere Schwerpunkte ergeben sich durch die Künstler*innen, mit denen wir zusammenarbeiten, im Oktober mit Anthony Hüseyin und „Crime of Passion“. Auch „1000 Airplanes on the Roof“ zeigt, dass das Queere eine Rolle spielt, ohne dass es vorher geplant war: Erst haben wir das Stück ausgesucht, danach habe ich die trans Regisseurin Paige Eakin Young gefragt, deren Arbeit ich schätze und die ich schon vor ihrer Transition kannte. Sie erklärte mir, dass sie im Stück trans* Diskurse reflektiert sehe. Dann kam die Idee auf: Lasst uns doch ein All-FLINTA*-Team zusammenstellen. So ergibt sich das manchmal.
Was für Highlights wird es in dieser Spielzeit sonst noch geben? Zum Beispiel die Frühlingsoper „Selemo“ mit dem von William Kentridge in Johannesburg gegründeten Centre for the Less Good Idea und in Co-Produktion mit der Komischen Oper. In „Selemo“ geht es um die Strukturierung der Zeit beziehungsweise der Jahreszeiten durch Klang – aus der Perspektive unterschiedlicher Traditionen, etwa mit „Der Frühling“ aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ und verschiedenen Musiksprachen aus Südafrika. Und dann „tarab“, eine Produktion, die sich Umm Kulthum, der großen ägyptischen Sängerin des klassischen arabischen Liedes, widmet. Dafür konnten wir einen in Israel geborenen Regisseur und eine Komponistin mit Wurzeln in Algerien gewinnen. Umm Kulthum erreichte ein breites Publikum, jenseits von Religionszugehörigkeit und Ländergrenzen. Wir fragen, inwiefern ihre Musik heute grenzüberschreitend wirkt.
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