Filmisches Gemeinschaftsprojekt aus Berlin

Nie wieder Opfer! „Nico" im Kino

12. Mai 2022 Anja Kümmel
Bild: UCM. ONE
Nico (Sara Fazilat)

In dem Film „Nico“ muss die gleichnamige Hauptfigur nach einem rassistischen Überfall lernen, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.

Das mehrfach ausgezeichnete Spielfilmdebüt entstand als Gemeinschaftsprojekt von Regisseurin Eline Gehring, Hauptdarstellerin und Produzentin Sara Fazilat und Kamerafrau Francy Fabritz. Sara Fazilat wurde für den Deutschen Filmpreis als Beste Hauptdarstellerin nominiert.

Lebensgefühl eines Berliner Sommers

Nico nimmt sich ihren Raum: Wenn sie Lust hat, mitten auf der Fahrbahn mit dem Rad Kurven zu fahren, dann tut sie das einfach – da kann die Autofahrerin hinter ihr so viel schimpfen, wie sie will. Mit ihrer besten Freundin Rosa veranstaltet sie spontane Partys im Späti, oder die beiden Deutsch-Iranerinnen ziehen durch die Berliner Parks, wo sie über Kopftücher und Kiffen reden und später zu einem Rave stoßen.

Erfrischend und authentisch fängt „Nico“ das Lebensgefühl eines Berliner Sommers und das der charismatischen Protagonistin ein. Regisseurin Eline Gehring, Hauptdarstellerin und Produzentin Sara Fazilat und Kamerafrau Francy Fabritz schrieben das Drehbuch gemeinsam, ließen aber auch viel Raum für Improvisation, sodass „Nico“ mitten aus dem Leben gegriffen wirkt, authentisch und vielstimmig.

Gerade die Szenen, in denen Nico bei ihrer Arbeit als Altenpflegerin zu sehen ist, erhalten so fast dokumentarischen Charakter. Ob Nico mit einem älteren Patienten ein paar Tanzschritte im Wohnzimmer probiert oder mit der pflegebedürftigen Brigitte bei einem Schlückchen Eierlikör über deren letzten „Kurschatten“ scherzt, während sie ihr die Fußnägel lackiert – mit wenigen starken Bildern und Dialogen werden Nicos Lebensfreude, Schlagfertigkeit und warmherziges Engagement auf den Punkt gebracht.

Bild: UCM. ONE
Nico (Sara Fazilat) im Park

Düstere Wendung

Auf dem Heimweg wird aber Nico von einem rassistisch getriebenen Mob zusammengeschlagen. Im anfänglichen Wortgefecht will sie die sich anbahnende Gewalt wie üblich mit einer Prise Schnoddrigkeit beiseitewischen – doch dann liegt sie schon bewusstlos am Boden. Die Beiläufigkeit und zugleich brachiale Wucht, mit der der Überfall in Nicos Alltag hineinkracht, vermitteln bis in die letzte Faser des Körpers hinein, was es heißt, ein Trauma zu erleben.

Konsequent ändert sich nach diesem Einschnitt die Tonart des Films: Auch wenn Nicos physische Wunden nach und nach verheilen, wirkt sie wie abgeschaltet, verliert den Bezug zu ihrer Umwelt, selbst zu ihrer engsten Vertrauten Rosa (Javeh Asefdjah). Zugleich ist sie leicht reizbar und wird von Flashbacks des Überfalls heimgesucht. Die Metaebene lässt „Nico“ weitgehend außen vor. Es wird weder über strukturellen Rassismus diskutiert, noch fällt je der Begriff „posttraumatische Belastungsstörung“. Stattdessen wählt Nico einen direkten, rohen Weg, um mit ihrem Schmerz und ihrer Wut umzugehen: Sie unterwirft sich dem harten, fast militärischen Drill des Karatetrainers Andy (Andreas Marquardt), um ihren Körper zu stählen und sich auf potenzielle Gefahren vorzubereiten.

Parallel dazu lernt sie auf einem Jahrmarkt die junge Mazedonierin Ronny (Sara Klimoska) kennen, die sofort ein Auge auf sie geworfen hat, zugleich jedoch etwas vor ihr zu verbergen scheint. Gekonnt oszilliert der Plot zwischen dem Wunsch seiner Hauptfigur nach Abhärtung einerseits und einer tastenden Annäherung an die neue Bekanntschaft andererseits, die ihr weitaus mehr Verletzlichkeit abverlangt, als sie in dem Moment zulassen möchte.

Bild: UCM. ONE
Nico (li., Sara Fazilat) und ihre neue Bekanntschaft Ronny (re., Sara Klimoska)

Kein „Film über Rassismus“

Es ist sehr angenehm, dass „Nico“ kein „Film über Rassismus“ sein will oder eine klassische Coming-out-Geschichte erzählt. Stattdessen bleibt er konsequent in den jeweiligen Lebensrealitäten seiner Figuren, in denen Sexismus, Rassismus und die Erkundung der eigenen Sexualität eine mehr oder weniger große Rolle spielen. So wird Rosas lesbisches Begehren in der zweiten Hälfte ganz selbstverständlich eingeführt, Nicos sexuelle Orientierung hingegen an keiner Stelle thematisiert. Auch die Gender-Thematik wird nicht wirklich verhandelt: Ist es Zufall, dass bei dem Schlägertrupp, der Nico angreift, eine Frau den Ton angibt? Und was bedeutet es für eine weiblich sozialisierte Person, sich durch Kampfsport selbst zu ermächtigen?

Manchmal hätte man gern über die flüchtigen Momentaufnahmen hinausgeblickt, mehr zur Vorgeschichte und den Gedanken der Figuren erfahren. Oder vielleicht sind sie einer*einem auch einfach in nur 75 Minuten so sehr ans Herz gewachsen, dass man sie gern noch länger begleitet hätte!

Nico, D 2021,
Regie: Eline Gehring, mit Sara Fazilat, Javeh Asefdjah, Sara Klimoska u. a.

Im Kino: ab 12. Mai 2022

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