Container-Lager in Berlin-Tempelhof

Queere Geflüchtete aus der Ukraine: Leben hinterm Bauzaun

17. Nov. 2025 Peggy Lohse
Bild: Jonathan Small
Emmy und Mark lernten sich auf der Flucht kennen

Emmy und Mark fliehen 2022 als 17-Jährige vor Russlands Krieg aus der Ukraine, lernen sich auf der Flucht kennen. Im überfüllten Berliner Container-Notlager müssen sie drei Jahre ausharren, bis sie eine Wohnung finden und sich die Kontrolle über ihr nun erwachsenes Leben zurückholen können. SIEGESSÄULE-Autorin Peggy Lohse traf die beiden zum Gespräch

Nach drei Jahren auf 13 Quadratmetern Containerraum erscheint die neue Ein-Zimmer-Studiowohnung im Berliner Süden wie ein Palast. Eineinhalb Monate nach ihrem Einzug können Emmy und Mark Yurgel ihr Glück noch immer kaum fassen: Vor den großen Fenstern stehen keine Zäune mehr, die sie vom Leben der Hauptstadt aus- und in einer Geflüchtetenunterkunft eingrenzen, wie es auf dem Tempelhofer Feld der Fall war. Stattdessen führen gepflegte Spielstraßen zum Bus, zum Supermarkt, in die Stadt. Der Umzug ist sicher kein endgültiges Happy End. Zu viele Traumata verfolgen die beiden bis in die Zukunftspläne.

Liebe auf der Flucht

Das Paar stammt aus dem Osten der Ukraine: Emmy aus der Kleinstadt Druschkiwka und Mark aus Mariupol. Beide Städte liegen in der Oblast Donezk, die zu Teilen seit 2014 von Russland kontrolliert und seit 2022 nahezu gänzlich von der russischen Armee besetzt oder beschossen wird. Emmy und Mark flohen im Frühjahr 2022 vor Russlands Krieg gen Westen. Emmy mit einer Freundesgruppe, Mark mit Verwandten.

Kennengelernt haben sich die beiden im Sommer 2022 in Polen. Emmy lebte damals mit ihren Freund*innen in einer Behelfsunterkunft in einer Schule in Jawor im polnischen Niederschlesien und kämpfte mit Alkoholproblemen. Online lernte sie Marks Schwester kennen und besuchte die beiden und deren Gastfamilie per Radtour im 45 Kilometer entfernten Jelenia Góra.

Ein Abend in Stille Kartenspielen, ein Ausflug ins Schwimmbad, ein erster Kuss und sie wurden ein Paar. „Wir wussten – Jetzt alles oder nichts”, erinnert sich Mark. Und Emmy: „Sonst hätten wir uns nie wieder gesehen.” Stattdessen folgte Mark Emmy nach Jawor. Dann bestimmte Marks Familie, dass sie nun mit Emmy nach Deutschland weiterziehen sollten, wo Marks Mutter bereits lebte. Über Dresden und Meerane erreichten sie Berlin. Es folgten ein Monat Erstaufnahme in Tegel, dann drei Jahre im Container in Tempelhof.

Bild: Jonathan Small
Gemeinsam floh das Paar nach Deutschland und lebte drei Jahre im Berliner Container-Notlager in Berlin-Tempelhof
Seit der Flucht aus der Ukraine – so erscheint es Mark – hat die Großmutter die brutale Rolle der Mutter übernommen, beleidigt Mark und schlägt ihn.

Anfangs lebte Marks Großmutter im selben Wohncontainer, was das Ankommen des Paares enorm erschwerte. Seit der Flucht aus der Ukraine – so erscheint es Mark – hat die Großmutter die brutale Rolle der Mutter übernommen, beleidigt Mark und schlägt ihn. Sie habe versucht ihn zu brechen. Mark verlässt bald das Containerzimmer nur in Ausnahmefällen, und schafft es doch, die ersten Deutschkurse abzuschließen. Emmy absolviert ihr Deutsch-B1 Level und treibt zielstrebig ihre Transition voran. Mark muss die wenige verbleibende Kraft zusammennehmen, um das Verhältnis zwischen sich, seinen Bedürfnissen und seinem Körper zu verstehen, während er mit Geschlechtsdysphorie kämpft. Sicher fühlen sie sich im Tempelhofer Lager beide nicht.

Emmy und Mark wollten schon länger weg aus der Ukraine: Sie träumten von einem queer-freundlichen New York und leichteren Bedingungen für die Transition. Als sie nach Berlin kommen, eine pulsierende queer-Metropole in Westeuropa, sind sie doch nur Zaungäste mit Blick aus ihrem Containerdorf. Im Lager herrscht Perspektivlosigkeit, viele leiden unter Depressionen, während auf der anderen Seite der Bauzäune mal ein Zirkus gastiert, mal die Berliner*innen Grillpartys feiern und den Sonnenuntergang genießen.

Bild: Jonathan Small
Sie träumten von einer queerfreundlichen Stadt und leichtere Bedingungen für eine Transition
Die wichtigste Kraftquelle für das Paar heute sind sie selbst: ,Wir sprechen über wirklich alles', sagt Mark.

Der verzogene Hund von Marks Großmutter hinterlässt überall kleine und große „Geschäfte”. Die Oma selbst beschimpft das Paar als „Monster”. Und manchmal kommt die Mutter zu Besuch – und mit ihr die Gewalt. Beide berichten von früheren Suizidversuchen und selbstverletzendem Verhalten. Emmy zeigt ihr Unterarmtattoo: „Das verbirgt Brandwunden … Aber schau: Wir haben beide ein ähnliches Bild an derselben Stelle.” Mark zeigt seines am linken Unterarm und lächelt stolz. Die wichtigste Kraftquelle für das Paar heute sind sie selbst: „Wir sprechen über wirklich alles”, sagt Mark.

In der Geflüchtetenunterkunft am Tempelhofer Feld leben aktuell über 1.500 Menschen in mehr als 37 Wohncontainern. In den vergangenen Jahren waren es zeitweise bis zu 3.000 Menschen aus ganz unterschiedlichen Regionen der Erde mit verschiedenen Bedürfnissen. Im Juni platzten Unterkunftspläne in anderen Stadtteilen, weswegen das Camp in Tempelhof nun bald um weitere neun dreistöckige Containerblöcke für die nächsten zehn Jahre erweitert werden soll. Das Lager ist eine Notunterkunft, für Fälle akuter Wohnungslosigkeit geflüchteter Menschen. Doch die Nachfrage ist so groß, dass viele jahrelang bleiben müssen.

Emmy bittet immer wieder bei der Unterkunftsleitung und Ausländerbehörde um Unterstützung bei der Wohnungssuche, bemüht sich um Unterbringung in einem Queerhome in Lichtenberg. „Die Mitarbeitenden waren freundlich und hilfsbereit, auch die meisten Nachbar*innern akzeptierten uns”, erinnert sich Emmy. Aber die Auszugsversuche bleiben erfolglos. Die Camp-Bedingungen – eine extrem diverse Kleinstadtbevölkerung auf minimalstem Raum – erschweren besonders traumatisierten Personen das Ankommen. Und vor Gewalt zwischen Familienmitgliedern im Camp gibt es kaum Schutz.

Die Nachfrage nach queeren Schutzräumen für LGBTIQ*-Geflüchtete ist weit größer als die Angebote. Mehrere Initiativen, wie die Schwulenberatung Berlin oder der Sonntagsclub betreiben zwar spezielle Unterkünfte. Doch die wenigen Plätze sind schnell vergeben, wo sich doch seit Jahren mehrere tausend queere Geflüchtete in Berlin aufhalten.

Die Kraft der Selbstdarstellung

Im Frühjahr 2023 treffen Emmy und Mark den Fotografen Jonathan Small. Sie freunden sich an, er wird eine ihrer wichtigsten Unterstützungspersonen, sagen beide heute. „Ich habe sie nicht als Fotograf kennengelernt, wir mochten uns und trafen uns häufig zum Reden”, erzählt Small. „Ich merkte, dass es ihnen guttat, wenn ich sie fotografierte.” So entstanden bis Ende 2024 seine Bilder von Emmy und Mark. „Am Anfang erschienen sie mir sehr verschlossen und depressiv, mittlerweile kommen beide viel mehr aus sich heraus. Sind selbstbewusster.”

Erst im März 2025, nach mehr als zwei Jahren, können Emmy und Mark von der Großmutter wegziehen – in einen anderen Container. Da stoppt Mark seine knapp zwei Monate lange Einnahme von Testosteron: „Im Winter bekam ich das Attest für die Hormontherapie, dann dachte ich, folgen würde das Allergrößte in meinem Leben. Doch die Veränderungen fühlten sich falsch an. Ich bekam Angst davor, etwas Irreparables mit meinem Körper anzustellen.“ Genderfluid sei für ihn wohl der passendste Begriff. „Ich wusste schon in der Ukraine, dass mein Körper, wie er war, nicht mein Körper war”, sagt Mark. „Ich will mich als Ich-selbst fühlen. Und von anderen einfach als Mensch angenommen werden.” „Willkommen im Club”, antwortet Emmy.

Bild: Jonathan Small
Eine Wohnung, PC und etwas Geld und Mark – mehr brauche Emmy heute nicht

Neue Wohnung, neue Perspektiven

Im Sommer erlebt das Paar erstmals einen heftigen Nachbarschaftsstreit in ihrem Container. Die neue Mitbewohnerin beschuldigt sie des Diebstahls, beschwert sich bei der Campverwaltung. Die Hitze in den Containern lässt die Emotionen hochkochen. Doch dann eine überraschende Nachricht: eine freie Wohnung. Am Freitag Besichtigung, am Montag Umzug. Erstbezug in neu errichtetem, energiesparendem Wohnquartier in Südberlin, vorgesehen für Geflüchtete und andere Menschen mit Wohnberechtigungsschein.

Der 12. August ist für das Paar Einzugs- und Glückstag. Statt Enge und geteilter Außentoiletten bekommen sie nun einen Rückzugsraum, von dem aus sie Pläne wie geschlechtsangleichende OP, Dokumente-Korrekturen, weitere Ausbildung angehen können. Langfristig wollen sie lieber in einer Kleinstadt leben.

„Ich weiß heute, wen und was ich wirklich brauche: eine Wohnung, PC und etwas Geld − Mark und einzelne, wirklich gute Freunde.”

Doch von Bekannten erfahren sie, dass Marks Angehörige nach dem neuen Wohnort suchen. Manchmal riefen sie auch an, sagt Emmy, und „drohen Mark damit, dass sie ihn finden und zerstören würden”. Das Familienstalking trübt die Aufbruchsstimmung. „Ich bin alt geworden, habe meine kindliche Verspieltheit verloren“, sagt Emmy. „Ich weiß heute, wen und was ich wirklich brauche: eine Wohnung, PC und etwas Geld − Mark und einzelne, wirklich gute Freunde.” „Wir haben wirklich viel verloren”, sagt Mark. „Aber ich habe gelernt zu leben, mich nicht dafür zu bestrafen, etwas nicht zu können. Und, dass Familie nicht am Blut hängt.” Alles, was sie wollen, ist, für sich zusammen ein selbstbestimmtes Leben aufbauen.

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