Interview mit Historikerin Anna Hájková

Queere Geschichte des Holocaust

20. Jan. 2021 Paula Balov
Bild: Seed9

Am 27. Januar ist Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Wir sprachen mit Anna Hájková von der Universität Warwick: Sie ist eine von wenigen Historiker*innen, die sich gezielt mit „queerer Holocaust-Geschichte“ beschäftigen. Dabei ist es ihr wichtig, nicht einfach unser heutiges Verständnis von Queersein auf die Geschichte zu projizieren

Frau Hájková, dieses Jahr erscheint Ihr Buch „Menschen ohne Geschichte sind Staub“. Mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich darin? In meiner Forschung geht es um Menschen, die wegen ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis verfolgt, in ein KZ oder Ghetto deportiert worden sind und die entweder aus freien Stücken oder erzwungenermaßen sexuelle oder romantische queere Beziehungen erlebten. Ich beschäftige mich damit, was sie in den Wochen und Monaten vor ihrem Tod taten, wie ihr Leben vor der Deportation oder im Versteck aussah, was für ein Verhältnis sie zu ihrer eigenen Familie hatten und eben welche Bedeutung Liebe und Sexualität für sie hatten. Ich habe auch eine Untersuchung homophober Vorurteile gemacht, die ihnen seitens anderer Häftlinge entgegengebracht wurden.

Warum ist ein queerer Blickwinkel auf die Geschichte des Holocausts wichtig? Unsere Vorstellung vom Holocaust ist geprägt von einer dualen Sicht auf die „Guten“ und die „Bösen“. Damit meine ich nicht die Täter und Opfer des Holocausts, sondern eine Vorstellung von „guten“ und „bösen“ Opfern und Helden, die keine Zwischentöne zulässt. Wenn man anfängt die Geschichte zu queeren, kann man fragen: Wie viel Sinn hat diese Sichtweise? Queere Geschichte ist, so argumentiere ich, ein gutes Pars pro Toto dafür, wie wir über den Holocaust offener sprechen können: Es geht darum, Raum zu schaffen für menschliche Ambivalenzen, und darum, unterschiedliche Geschichten der Opfer sichtbar zu machen.

„Mich hat beschäftigt: Welche Geschichten werden nicht erzählt? Was sind die Regeln dafür, was man erinnern darf?“

Wie sind Sie auf diesen Ansatz gekommen? Als ich meine Dissertation über Theresienstadt geschrieben habe, hat mich beschäftigt: Welche Geschichten werden nicht erzählt? Was sind die Regeln dafür, was man erinnern darf? Ich wusste, wie stigmatisiert bestimmte Formen von Sexualität sind, gerade queere Sexualität. Als ich anfangs mit Kolleg*innen aus der Geschichtswissenschaft darüber sprach, hatte ich den Eindruck, dass viele überhaupt nicht verstanden, warum mein Ansatz relevant war. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass man in der Holocaust-Forschung Juden und Jüdinnen oft automatisch als heterosexuell denkt und die queeren Opfer als nicht jüdisch. Aber das trifft nicht zu.

Ist dieses Denken ein Grund, weshalb die queere Holocaust-Geschichte in den Geschichtswissenschaften bislang eher unterrepräsentiert ist? Das nehme ich an, ja. Ich glaube, die LGBTI*-Forschung hatte lange Zeit aus verständlichen Gründen vor allem ein emanzipatorisches Ziel. Es ging darum, LGBTI*-Personen in die Geschichte zurückzubringen und sie dabei als tolle Menschen darzustellen. Das ist richtig und wichtig, aber kein wirklich analytischer Ansatz.

Wie gehen Sie bei Ihren Forschungen vor? Ich finde Zeugnisse, zum Beispiel Tagebücher, in denen gleichgeschlechtliche Sexualität erwähnt wird. Anhand dieser meist kurzen Passagen versuche ich festzustellen, um welche Menschen es sich handelte. Überlebende notierten zum Beispiel: „Ich hatte eine schreckliche Kapo, sie war lesbisch.“ Daraus lässt sich natürlich nicht feststellen, wer diese Frau war. Aber manchmal kommen spezifische Details vor, die man mit anderen Zeug*innenberichten vergleichen kann. Ich suche in Archiven, schaue, ob es Verwandte gibt, die ich interviewen könnte. Dann komme ich vielleicht an Nachlässe oder Fotos usw.

„Einer der spannendsten Fälle ist Elli Joelson: eine jüdische Medizinstudentin, die 1943 aus Berlin nach Auschwitz deportiert wurde. Sie war anscheinend zum Kriegsende eine erzwungene „Beziehung“ mit einer Aufseherin in Groß-Rosen eingegangen.“

Gibt es einen Fall, der Sie überrascht hat? Einer der spannendsten Fälle ist Elli Joelson, auf die ich dank meiner Kollegin Edith Raim kam: eine jüdische Medizinstudentin, die 1943 aus Berlin nach Auschwitz deportiert wurde. Sie war anscheinend zum Kriegsende eine erzwungene „Beziehung“ mit einer Aufseherin in Groß-Rosen eingegangen. Beziehung ist hier ein Begriff, den ich bewusst problematisieren möchte. Die beiden blieben anscheinend auch nach Kriegsende zusammen und zogen nach West-Berlin. Zwei Jahre später trennten sie sich. Die ehemalige Aufseherin zeigte Elli Joelson an und warf ihr vor, als Häftlingsärztin Josef Mengele bei den Selektionen geholfen zu haben. Es liegt auf der Hand, dass dies eine jüdische Häftlingsärztin nicht getan hat. Unter den Leuten, die zugunsten Elli Joelsons aussagten, war ein Berliner lesbisches Paar, das ebenfalls Auschwitz überlebt hatte. Allerdings überlappte sich der Auschwitz-Aufenthalt dieser drei Frauen nur um wenige Wochen, daher konnte das lesbische Paar nicht wissen, wie sich Elli Joelson im KZ verhalten hatte. Das ist ein Hinweis darauf, dass es sich um eine Gefälligkeitsaussage handelte und die Frauen vermutlich befreundet waren. Dies wiederum lässt die Frage zu, ob es Solidarität und Netzwerke unter lesbischen Holocaust-Überlebenden gab. Anders als die vielen anderen, meist heterosexuellen erzwungenen „Beziehungen“, von denen wir wissen, blieb die von Joelson auch nach dem Krieg länger bestehen. Sie beschützte die Aufseherin nach der Befreiung, bürgte für sie und nahm sie mit nach Berlin. Warum? Weil sie das Gefühl hatte, sie schulde ihr etwas? Weil die Aufseherin sie emotional manipuliert hatte? Im Übrigen gibt es in der Holocaust-Forschung eine Debatte darum, wie ernst man Entscheidungen der Opfer nehmen kann. Ich plädiere dafür: nur weil der Spielraum der Opfer sehr begrenzt war, heißt es nicht, dass wir ihre Entscheidungen, ihre Agency nicht untersuchen und ernst nehmen sollten.

„Queere Handlungen gab es schon immer, aber homosexuelle Identität ist relativ jung.“

Sie sagen, dass es Ihnen nicht um sexuelle Identitäten geht, sondern um queere Handlungen. Warum ist Ihnen diese Unterscheidung wichtig? Queere Handlungen gab es schon immer, aber homosexuelle Identität ist relativ jung. Nach Foucault sprachen erst in den 1860er-Jahren Mediziner*innen von Homosexuellen, andere, gerade britische Historiker*innen sind der Meinung, dass diese Identität erst in den 1950er-Jahren entstand. Daher ist es ahistorisch, unser heutiges Verständnis von Queersein auf die Geschichte zu projizieren. Viele der „Beziehungen“, über die ich forsche, waren erzwungen, und man kann gar nicht von einer LGBTI*-Identität sprechen. Weitere Menschen beteiligten sich an gleichgeschlechtlicher Beziehung, identifizierten sich selbst aber nicht als lesbisch oder schwul. Daher wäre es ungenau und irreführend, sie so zu bezeichnen.

Es gibt auch immer wieder Debatten, welcher Gruppen wie gedacht werden soll. Zum Beispiel wird seit Jahrzehnten darum gestritten, ob in der Gedenkstätte Ravensbrück eine Gedenkkugel aus Ton für lesbische Frauen aufgestellt werden soll. Manche befürchten, damit würde man suggerieren, Lesben seien so wie schwule Männer verfolgt worden, die aufgrund des § 175 verurteilt und verhaftet wurden. Niemand behauptet, Frauen wären in gleichem Ausmaß wie queere Männer verfolgt worden. Es gab aber Frauen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung von Repression betroffen waren, und es gab viele Frauen*, die sich als lesbisch verstanden oder die wir als queer bezeichnen können, die aus verschiedenen anderen Gründen verfolgt wurden. So wie wir eben polnische oder norwegische Opfer erinnern, müssen wir auch der queeren Frauen, die in KZs deportiert wurden, gedenken. Wenn wir aller Opfergruppen würdig und angemessen gedenken, bekommen wir nicht nur einen besseren Blick auf die Geschichte, sondern auch eine offenere und inklusivere Gesellschaft.

Bild: Ina Rosenthal
Entwurf einer „Gedenkkugel“ für lesbische NS-Opfer, Gedenkveranstaltung am Mahnmal im Berliner Tiergarten im September 2018

Anna Hájková ist assoziierte Professorin an der Universität Warwick. Ihre mehrfach ausgezeichnete Dissertation schrieb sie über das Ghetto Theresienstadt. Voraussichtlich im ersten Halbjahr 2021 erscheint ihr Buch „Menschen ohne Geschichte sind Staub. Homophobie und Holocaust“ im Wallstein-Verlag

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