Queerness und Klassismus im Fokus: Film „Wenn du Angst hast ...“

Poetisch und gesellschaftskritisch zugleich, mit sanften, queeren Hintertönen: Marie Luise Lehners Langfilmdebüt „Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst“ war eines der Highlights der letzten Berlinale und bekam den Preis der Teddy-Jury. Filmredakteurin Annabelle Georgen traf die junge queere Filmregisseurin aus Wien beim Videocall
„Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst“ – wie bist du auf so einen entzückend langen Filmtitel gekommen? Ich verwende oft Zitate als Titel, meine anderen Filme heißen zum Beispiel „Mein Hosenschlitz ist offen. Wie mein Herz“ oder „Im Traum sind alle Quallen feucht“. „Wenn du Angst hast …“ ist ein Zitat aus dem Buch „Warum das Kind in der Polenta kocht“ der rumänischen Schriftstellerin Aglaja Veteranyi. Während des Ceausescu-Regimes ist sie mit ihrer Zirkusfamilie geflüchtet und durch Europa gewandert. Der Satz kommt übrigens auch mal im Film vor.

„Ich wollte einen Film über soziale Verhältnisse machen und dabei zeigen, wie die Personen in diesem System gefangen sind. Das bezieht sich natürlich auch auf Queerness.“
Im Film geht es um die zwölfjährige Anna, die mit ihrer gehörlosen Mutter in Wien lebt. Als sie aufs Gymnasium kommt, spürt sie zum ersten Mal, dass sie, im Vergleich zu den anderen Schüler*innen, arm ist. Eines der zentralen Themen deines Films ist Klassismus … Mit diesem Thema beschäftige ich mich viel in meiner Arbeit. Und ich habe das Gefühl, es gibt sehr wenig Filme in Österreich, die eine Innenperspektive wählen. Meistens wird auf die Figuren herabgeschaut, ihre Geschichte wird skandalös, brutal erzählt, anstatt aus den Figuren heraus zu erzählen, was Klassismus eigentlich bedeutet. Ich wollte einen Film über soziale Verhältnisse machen und dabei zeigen, wie die Personen in diesem System gefangen sind. Das bezieht sich natürlich auch auf Queerness. Es gibt hier auch viel Scham: Wenn du nicht so wie die anderen bist, bist du falsch und sollst dich unterordnen. Im Film geht es für mich auf jeden Fall um das Überkommen sämtlicher Gründe, sich zu schämen.
Anna ist mit Mara befreundet, die einen queeren Vater hat. Queerness kommt eher sanft in Annas Leben an und wird nie groß thematisiert. Warum? Es gibt unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite ist es, glaube ich, einfach sinnvoll, wenn man die Geschichte eines 12-jährigen Kindes erzählt, noch keine Antworten zu den Fragen der Figuren zu haben. Für mich wäre es falsch gewesen zu sagen, Mara und Anna sind jetzt ein Paar und Anna outet sich als trans oder so. (lacht) So würde Netflix den Film vielleicht machen wollen. Vieles ist eigentlich im Subtext. Es wird wenig ausgesprochen und sehr viel funktioniert über Blicke, über die Auswahl der Komparsen im Hintergrund oder eben darüber, dass ein Schauspieler wie Daniel Sea auftritt oder dass Leslie Feinberg am Ende spricht. Auf der anderen Seite habe ich eine öffentliche Förderung bekommen, und ich traue Förderstellen nicht zu, eine queere Geschichte zu verstehen und zu fördern. Deswegen habe ich lieber einen Film über Klassenunterschiede, eine Mutter-Tochter-Beziehung und eine Freundschaft gepitcht.
„Unsere Hauptdarstellerin, Mariya Menner, ist durch diesen Film die erste gehörlose Schauspielerin Österreichs geworden. Es war ihre erste Rolle.“
Warum hast du dich für eine gehörlose Frau als zentrale Figur entschieden? Unsere Hauptdarstellerin, Mariya Menner, ist durch diesen Film die erste gehörlose Schauspielerin Österreichs geworden. Es war ihre erste Rolle. Das sagt vieles. Gehörlose sind nach wie vor strukturell extrem diskriminiert in Österreich. Die Gebärdensprache ist erst 2005 als Sprache anerkannt worden, bis 1986 war es sogar an österreichischen Schulen verboten, Kinder in Gebärdensprache zu unterrichten. Für mich war es eine Notwendigkeit, dieses Thema auf die Leinwand zu bringen. Andererseits ist es überhaupt nicht verständlich, warum man nicht Filme mit Untertiteln im Kino zeigt. Gehörlose werden dadurch ausgeschlossen. Es hat übrigens sehr viel Überzeugungsarbeit gekostet, „Wenn du Angst hast …“ mit deutschsprachigen Untertiteln für Gehörlose in die Kinos bringen zu können.
Was ist dein nächstes Projekt? Ich habe ein Filmprojekt in der Entwicklung, aber ich erzähle lieber noch nichts. Ich habe sonst sehr große Lust, einen lesbischen Arthouse-Film zu machen mit sehr vielen expliziten Sexszenen, weil ich finde, das ist ganz dringend notwendig. Ich weiß nur nicht, wie man das fördern lassen soll, weil da kann ich das Thema nicht mehr verheimlichen. (lacht)
„Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst“, AT 2025
Regie: Marie Luise Lehner
Mit: Siena Popovic, Mariya Menner, Jessica Paar, Daniel Sea
Ab 02.10. im Kino
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