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Queers mit Long Covid: Aus der Szene verschwunden

17. Sept. 2025 Philip Eicker
Bild: Julia Bernhard
Seit der Covid-Pandemie sind doppelt so viele Menschen von ME/CFS betroffen

Ständig erschöpft, keine Partys mehr und Demos schon gar nicht: LGBTIQ* mit ME/CFS verlieren häufig den Anschluss an die queere Community. Ihr Leiden bleibt meist unsichtbar und barrierearme Angebote sind rar. SIEGESSÄULE-Autor Philip Eicker hat mit zwei Betroffenen gesprochen

„Wie geht’s dir?“ Wer so fragt, erwartet manchmal tatsächlich eine ehrliche Auskunft. Wenn Donna (Name von der Redaktion geändert) darauf mit „Gut!“ antwortet, bedeutet das: „Ich fühle mich vergrippt, getoppt mit Symptomen eines Jetlags und eines Hangovers.“ Andere legen sich in diesem Zustand ins Bett, Donna steht auf: „Ich atme kurz auf und versuche, kleinere Dinge zu erledigen.“ Geht es ihr schlecht, liegt die 49-Jährige den ganzen Tag im Bett, kann auch nachts nicht schlafen, so sehr schmerzen Muskeln und Gelenke; sie hat Schwierigkeiten, Texte zu lesen und die richtigen Wörter zu finden. „Nichts funktioniert mehr“, klagt sie, „mein Körper nicht, mein Kopf nicht.“

„Nichts funktioniert mehr, mein Körper nicht, mein Kopf nicht.“

Angefangen hat alles mit einer Corona-Infektion 2020. „Nach zehn Tagen ließ das Fieber nach – aber meine Lebenskraft kam nicht zurück“, erzählt Donna. Es folgte ein Marathon durch diverse medizinische Fachpraxen. Ein Jahr später wurde allmählich klar: Donna hat ME/CFS, die schwerste Form von Long Covid. Für Gesunde ist die Krankheit schwer zu fassen. Donna beschreibt sie als „Grippegefühl, das keine Sekunde nachlässt. Man fühlt sich 24/7 grauenvoll und versucht das oft mit letzter Kraft zu überspielen, um überhaupt noch ernst genommen zu werden.“

Nur noch zwei queere Events pro Jahr

ME/CFS ist zwar seit 1969 als Erkrankung von der WHO klassifiziert, aber ihre Ursachen sind noch immer unklar. Seit der letzten Pandemie wird dieses Leiden intensiver erforscht, denn Corona hat die Zahl der Betroffenen in Deutschland mehr als verdoppelt. ME/CFS beginnt häufig nach einer Virusinfektion. Als Auslöser gelten neben Covid auch Grippe und Pfeiffersches Drüsenfieber (Epstein-Barr-Virus). Ein untrügliches Anzeichen sind die plötzlichen „Crashs“. Schon bei einfachsten Tätigkeiten wie Zähneputzen oder Einkaufen droht ein Zusammenbruch. Er kann wochenlang anhalten. Das Fachwort dafür ist „Post-exertionelle Malaise“ (PEM). „Da selbst Freude zu PEM führt, muss ich nicht nur Anstrengendem, sondern auch Schönem aus dem Wege gehen“, berichtet Donna.

„Seit fünf Jahren bin ich aus der Szene verschwunden. Mein zuvor großer Freund*innenkreis ist auf eine Handvoll informierter, empathischer Menschen zusammengeschrumpft.“

Die Folge: „Seit fünf Jahren bin ich aus der Szene verschwunden. Mein zuvor großer Freund*innenkreis ist auf eine Handvoll informierter, empathischer Menschen zusammengeschrumpft. Ich werde heute nicht mehr mitgedacht oder eingeladen – vermutlich, weil ich in fast 100 Prozent der Fälle absagen muss.“

Vielleicht, so hofft Donna, setzt dieser Artikel den Spot auf einen oft übersehenen Teil der LGBTIQ*-Community: chronisch kranke Queers. „Es braucht den Willen, auch sie mit einzubinden, zum Beispiel in Extraräumen, die so reizarm und barrierefrei wie möglich sein müssten.“ Zwei queere Events schafft Donna pro Jahr: lange im Voraus geplant, mit maximal einer Person als Begleitung. „Ganz früh am Tag, wenn kaum andere Gäste da sind, setzen wir uns in eine ruhige Ecke. Und wenn es voller wird, muss ich mich rasch nach Hause fahren lassen.“ Der Preis für den schönen Moment: ein möglicher Crash.

Pacing: neuer Lebensrhythmus

Auch Stephan Hellweg weiß inzwischen, wie er sich schonen muss, um die nächste PEM hinauszuzögern. Pacing heißt dieser Therapieansatz. Es geht darum, sich die eigenen Kräfte genau einzuteilen – wie ein Marathonläufer, der nicht vorm Ziel schlapp machen will. Das erfordert Selbstdisziplin. „Wenn ich wieder Energie habe, möchte ich eigentlich all das nachholen, was ich vorher nicht machen konnte“, gesteht Stephan.

Seit 2021 lebt der Schauspieler mit ME/CFS. Seine Krankheitsgeschichte hat er im letzten Dezember auf die Theaterbühne gebracht. „Raven mit Long Covid“ hieß die Produktion der Performancegruppe „Showcase Beat Le Mot“ im HAU. Darin zeigte der 39-Jährige, wie er sich ins Leben zurückkämpft – mit allen Rückschlägen. In einer Szene spielte er ein Casting nach: „Es geht um eine Rolle als Soldat. Ich bekomme eine 15-Kilo-Ausrüstung und soll damit den ganzen Tag rumrennen. Das kann ich gar nicht, trau mich aber nicht, Nein zu sagen.“ Stephan schleppt – und kurz darauf folgt der Crash. „Besser wäre es gewesen, mit dem Regisseur offen über die Erkrankung zu sprechen und nach einer alternativen Lösung zu suchen.“

„Wieder unabhängiger sein steht für mich an erster Stelle.“

Pacing bedeutet zum Beispiel, vor einem solchen Casting keine Freund*innen zu treffen, sondern sich konsequent auszuruhen. Dieses Jahr hat Stephan einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Sie soll als wirtschaftliche Basis dienen, damit er zumindest phasenweise arbeiten kann: „Wieder unabhängiger sein steht für mich an erster Stelle“, sagt er.

Ohne Protest kein Fortschritt

Eine der größten Herausforderungen von ME/CFS ist die Ungewissheit. Eindeutige Behandlungswege gibt es bisher nicht – schon gar keine, die vom Gesundheitssystem anerkannt werden. Die fehlende Aussicht auf Besserung raubt gerade den schwer Erkrankten jede Hoffnung. Einige wollen lieber sterben als weiterleiden. Deshalb fordern Donna und Stephan: Investiert mehr Geld in die Suche nach besseren Behandlungsmöglichkeiten! „Ich halte mich an der Hoffnung fest, dass finanzierte Forschung den entscheidenden Auslöser findet und es Lösungen geben wird“, sagt Donna. Stephan erinnert an das, was die LGBTIQ*-Community aus der Aids-Krise gelernt hat: „Je mehr Gelder in die Forschung fließen, desto schneller wird auch ein Gegenmittel gefunden.“

„Genauso brauchen auch wir Menschen mit chronischen Erkrankungen Unterstützung von Allys, die gesund genug sind, um auf unsere Probleme aufmerksam zu machen.“

Aber das passiert nur, wenn genügend Menschen Druck machen. „Wir als queere Community wünschen uns ja viele Verbündete außerhalb der LGBTIQ*-Familie“, sagt Stephan. „Genauso brauchen auch wir Menschen mit chronischen Erkrankungen Unterstützung von Allys, die gesund genug sind, um auf unsere Probleme aufmerksam zu machen.“ Seine Vorschläge: Einen Brief an die lokalen Abgeordneten schreiben oder auf eine Demo gehen. Zum Beispiel rund um den „ME/CFS Awareness Day“ am 12. Mai. 2025 protestierten in Berlin mehrere Hundert Leute am Hauptbahnhof – im Liegen, als Zeichen der Solidarität mit allen, die nur kurze Zeit stehen können.

Interessenverbände:
mecfs.de
fatigatio.de

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