„Reines Überwältigungstheater“ – Regielegende Robert Wilson ist tot

Der schwule Allround-Künstler Robert Wilson hat mit seinen Bühnenvisionen das Theater neu gedacht und weltweit inspiriert. Auch in Berlin hat er regelmäßig inszeniert. Nun ist er im Alter von 83 Jahren in seinem Künstlerdomizil, dem Watermill Center auf Long Island gestorben
Es gibt Theatererlebnisse, die sich geradezu unauslöschlich einbrennen. So wie dieser Abend vor über 30 Jahren im Hamburger Thalia Theater. Mit großen Mühen hatte ich noch eine Karte für die Uraufführung von „The Black Rider“ ergattert und konnte erstmals eine Inszenierung von Robert Wilson tatsächlich live erleben. In Berlin schwärmte man immer noch von „Death, Destruction & Detroit“ an der Schaubühne am Halleschen Ufer (von 1979!), und Wilsons unverwechselbare Bühnenästhetik übertrug sich selbst auf Fotos.
Es war, als ob Licht und Klang, Bewegung, Farben und Zeit völlig neu kalibriert und wahrnehmbar gemacht würden.
Als Gesamtkunstwerk aus überwältigendem Licht, dem vom expressionistischen Stummfilm inspirierten Maskenbild, seinem minimalistischen Bühnendesign und den exakt durchchoreografierten Slow-Motion-Bewegungen war dies reines Überwältigungstheater, das selbst auf meinem Platz im 2. Rang volle Wirkung erzielte. Es war, als ob Licht und Klang, Bewegung, Farben und Zeit völlig neu kalibriert und wahrnehmbar gemacht würden.
Wilsons Wirken in Berlin
Bald schon musste man Wilsons Produktionen nicht mehr hinterherreisen, um dieses streng abstrahierende und mysteriösem Bildertheater erleben zu können. Er inszenierte nun auch regelmäßig in Berlin: an der Freien Volksbühne, im Pierre-Boulez-Saal der Staatsoper und immer wieder am Berliner Ensemble.
Dort führte er auch die begonnene Arbeit an musicalartigen Neuschöpfungen fort. Am Thalia Theater hatte er für „The Black Rider“ den schwulen Beat-Autoren William S. Burroughs und Tom Waits mit ins Boot geholt. In Berlin übernahm für „Peter Pan“ das queere Indie-Pop-Paar CocoRosie die Musik; bei der Adaption der Shakespeare‘schen Sonette Rufus Wainwright (und Georgette Dee den selbstironischen Part eines Pausenclowns).
Da war Wilson längst auf der Höhe seiner Kunst, und weltweit bestens im Geschäft. Denn eine Wilson-Produktion musste man sich als Theater leisten können. Allein schon, aufgrund der aufwändigen Proben und technischen Einrichtungen. Auch deshalb ist Wilsons Karriere ein europäisches Phänomen; in den USA wäre sie in dieser Form kaum denkbar gewesen. Selbst die Oper „Einstein on the Beach“ (1976), das stilprägende und revolutionäre Jahrhundertwerk, das er mit dem anderen großen schwulen Minimalsten seiner Generation, dem Komponisten Philip Glass, schuf, wurde durch europäischer Ko-Produzenten ermöglicht.
Von der Betriebswirtschaft zur Kunst
Dass ihn der künstlerische Weg dorthin bringen würde war keineswegs vorgezeichnet. Auf Drängen seines Vaters hatte der in Texas aufgewachsene Wilson zunächst Betriebswirtschaft studiert. Sein Coming-out führte zu einem Bruch mit der Familie, aber war zugleich auch eine Befreiung. Er wandte sich nun der Architektur, der Kunst und dem Modern Dance zu – und besiegte durch eine Tanzlehrerin sein Stottern. Während des Studiums arbeitete er zudem in einer Einrichtung für Kinder mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Durch sie lernte er die Welt anders wahrzunehmen und andere als die gewohnten Kommunikationsformen zu erkunden. Erfahrungen die, wie Wilson später erklärte, maßgeblich seine Theaterarbeiten geprägt haben.
Großen Einfluss hatte nicht zuletzt Raymond, den der damals 27-jährige Wilson adoptierte, um ihn davor zu bewahren, in eine Anstalt abgeschoben zu werden. In New Jersey hatte er auf einer Straße zufällig beobachtet, wie ein Polizist einen Schwarzen Jungen mit einem Schlagstock verprügelte. Wie sich herausstellte war der Junge gehörlos, hatte keine Familie und galt als lernunfähig. Robert Wilson aber erkannte, dass der 13-Jährige sehr wohl intelligent war, allerdings in Zeichen dachte. „Ich begann durch ihn Dinge zu sehen, die mir zuvor nie aufgefallen waren. Er las Körpersignale, nicht Wörter.“ Gemeinsam mit Raymond erarbeitet Wilson seine erste große Bühnenproduktion „Deafman Glance“, eine über vierstündige „Silent Opera“, die 1971 auch in einigen Städten Europas tourte und dort die Grundlage seiner Karriere legte.
Als Regisseur bediente Wilson Theater- und Opernhäuser rund um den Globus – von Paris, Oslo und Sofia bis Moskau, Sydney und Shiraz im Iran.
Zuletzt, das musste man sich dann auch als alter Fan eingestehen, hatten Wilsons so konsequent und akribisch umgesetzten Theatervisionen ermüdet, wirkten zunehmend manieriert und selbstreferentiell. Überraschend war dies nicht, denn der Output des Allroundkünstler war enorm. Als Regisseur bediente er Theater- und Opernhäuser rund um den Globus – von Paris, Oslo und Sofia bis Moskau, Sydney und Shiraz im Iran.
Auf Long Island hatte er sich mit dem Water Mill Centre ein Arbeitsdomizil geschaffen, in dem er Sommers mit seinem Team zuweilen mehr als ein Dutzend Produktionen parallel vorbereitete, bevor die – oft auffallend gutaussehenden (und nicht selten schwulen) – Assistenten mit ihm die Projekte vor Ort umsetzten. Doch ein privates Kulturzentrum wie Water Mill, das ganzjährige Künstlerresidenzen und Programme für junge Künstler*innen aus verschiedenen Disziplinen bietet, will finanziert sein. Wilson war sich deshalb auch nicht zu schade etwa für Louis Vuitton Handtaschen zu gestalten.
Nun ist Wilson tot. Seine letzte Opernproduktion „Tristan and Isolde“ für Ljubljana werden seine Assistenten fertigstellen. Hierzulande bleibt nur, nach Düsseldorf zu reisen, um dort am Schauspielhaus die letzten Aufführungen seiner Bühnenadaption von „Moby Dick“ zu erleben. Am gleichen Haus ist auch noch „Dorian“ auf dem Spielplan. In diesem One-Man-Spektakel verknüpft Wilson Oscar Wildes „Dorian Gray“ mit der Liaison des Malers Francis Bacon zu einem Kleinkriminellen.
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