„Utopisches Geschlecht“: Neues Buch von Paul B. Preciado

Er studierte bei Jacques Derrida, machte seinen Doktor in Princeton und mischte mit seinem Erstlingswerk „Kontrasexuelles Manifest“ die Queer Theory auf: Paul B. Preciado. „Ein Apartment auf dem Uranus“ heißt das neuste Buch des philosophischen Allround-Talents
Wohnorte, Körper, Namen – was wir normalerweise als reale geografische, biologische oder zumindest juristisch abgesegnete Größen wahrnehmen, entspringt bei Paul B. Preciado nicht selten einer gänzlich anderen Bewusstseinsebene: den Träumen.
So verhält es sich mit seinem männlichen Vornamen, der ihm eines Nachts in einem Bett in Barcelona erscheint. Oder mit seiner imaginierten Heimat, die dem vorliegenden Essayband seinen Titel verleiht: „Ein Apartment auf dem Uranus“. In einem besonders lebhaften Traum, erzählt Preciado in der Einleitung, hatte sich sein irdisches Nomadendasein ins All verlagert. Auf jedem Planeten besaß er in diesem Traum ein Zuhause, und eine spezielle Bedeutung erlangte die Frage, ob er sein „Apartment auf dem Uranus“ aufgeben sollte oder nicht. Wie symbolisch aufgeladen der Uranus ist, führt Preciado im Folgenden aus: In den 1860er-Jahren prägte der deutsche Jurist Karl Heinrich Ulrichs die Bezeichnung „Uranismus“ für die Liebesbeziehungen des „dritten Geschlechts“ – verstanden als weibliche Seelen, in männlichen Körpern gefangen, und umgekehrt. Was heute wie eine kuriose Vermischung von Homo- und Transsexualität anmutet, kann auch – im Sinne Preciados – als „utopisches Geschlecht“ gelesen werden, ein Konzept, in dem sich bereits die permanente Unabgeschlossenheit des „Queer“-Begriffs andeutet.
Preciado, 1970 im spanischen Burgos geboren, identifiziert sich lange Zeit als queere Lesbe. Ab 2005 beginnt er, mit Testosteron zu experimentieren. Aus diesem radikalen Selbstversuch, verwoben mit einer scharfsinnigen Analyse biopolitischer Disziplinierungsmaßnahmen des 20. Jahrhunderts, entsteht sein bahnbrechendes Werk „Testo Junkie“. 2008 zunächst in Spanien publiziert, verhilft es Preciado in den folgenden Jahren auch international zum Durchbruch und etabliert ihn als Vordenker der Queer Studies. Inzwischen lebt der Autor, Philosoph und Kurator als trans Mann. Dass er sich jedoch keineswegs als „angekommen“ im männlichen Geschlecht versteht, sondern vielmehr als dauerhafter Exilant des Zweigeschlechtersystems, zeigt (neben vielem anderen) der vorliegende Band. Darin versammeln sich, von Stefan Lorenzer trefflich ins Deutsche übersetzt, die Kolumnen, die Preciado zwischen 2013 und 2018 für die französische Zeitung Libération schrieb, ergänzt um ein berührendes Vorwort der Schriftstellerin und Filmemacherin Virginie Despentes, mit der Preciado bis 2014 liiert war. Die deutsche Ausgabe bereichert zudem ein hochaktuelles Postskriptum, das sich mit den bio- und technopolitischen Implikationen der Corona-Pandemie befasst.
Wie den Signaturen zu entnehmen ist, entstanden die Texte vor allem in Hotelzimmern oder an Flughäfen, an Orten des ephemeren Aufenthalts. Es geht also nicht nur – wie der Untertitel, „Chroniken eines Übergangs“, suggeriert – um eine Transition, sondern um eine Vielzahl an Grenzüberschreitungen (zwischen Staaten, Sprachen, Themen, Geschlechtern), mehr noch: das Dasein in Transit an sich. Staunend folgen wir ihm von Paris über Athen nach Barcelona, New York, Kassel, Trondheim, Turin, während wir uns mental auf die Reise zwischen unerforschten Planeten begeben. Preciado schlägt assoziative Haken vom Politischen zum Privaten und wieder zurück, macht ungeahnte Parallelen auf, leistet sich hin und wieder aberwitzige Abschweifungen und bleibt letztendlich doch so pointiert, wie es die Kürze der Form verlangt.
„Kontrastiert wird diese Chronik der Gegenwart durch Fantasien einer Zukunft ohne Ausschlüsse und Hierarchien, in der jeder Mensch seine wunschgemäßen Genitalien mit 3-D-Biodruckern herstellen kann“
Dass sein „utopisches Geschlecht“ – insbesondere an physischen Staatsgrenzen – auf den Zwang prallt, sich eindeutig als „Mann“ oder „Frau“ zu verorten, holt uns immer wieder in die harsche Realität des irdischen Jetzt zurück und mutet dabei als genau der Anachronismus an, der er ist. Zugleich fantasiert Preciado eine Zukunft herbei, in der nicht Transpersonen gezwungen werden, von einem Geschlecht zum anderen zu transitionieren, sondern in der vielmehr die „Systeme der Wahrheitsproduktion“, die politische Fiktionen wie „Nationalstaat“ und „Geschlecht“ hervorbringen, in eine derart tiefe Krise geraten, dass ein Paradigmenwechsel unausweichlich wird. Letztendlich, so Preciado, ist es der gesamte politische Raum, der in Transition eintreten muss.
Neben diesem narrativen Grundrauschen protokollieren die Kolumnen diverse geopolitische Veränderungen der letzten Jahre, im ständig oszillierenden Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Rückschritt. So begab sich Preciado vor rund 20 Jahren auf eine „identitätsstiftende Pilgerreise“ nach Lesbos, um dort die Utopie 500 nackter Lesben am Strand von Eresos zu zelebrieren. Heute ist Lesbos, als eines der meistangesteuerten Ziele für Migranten in Griechenland, ein Ort der Exklusion und Todestechniken – und Preciado selbst versteht sich als selbstgewählter Migrant jenseits der Geschlechterbinarität. Gewohnt hellsichtig kommentiert er die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien, die Protestwellen im krisengebeutelten Athen, die neuen Grenzziehungen an den Rändern Europas und der USA. Kontrastiert wird diese Chronik der Gegenwart durch Fantasien einer Zukunft ohne Ausschlüsse und Hierarchien, in der jeder Mensch seine wunschgemäßen Genitalien mit 3-D-Biodruckern herstellen kann – jenseits der Gesetze geschlechtlicher Fortpflanzung und des medizinisch-rechtlichen Systems. Derlei Utopien mögen heute in etwa so weit entfernt von der Realität erscheinen wie Preciados uranische Heimat von der Erde – „aber nicht so weit, dass Sie mich nicht besuchen kommen könnten. Und sei es auch nur im Traum.“

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