Vermehrte Angriffe auf Schwule beim Cruising
Nach mehreren Übergriffen auf schwule Männer beim Cruisen in öffentlichen Parks räumen Szene, Polizei und Prävention gemeinsam auf – und sprechen über Angst, Drogen und Verantwortung
Rafael Puetter greift mit einer Wurstzange unter einen Busch im Tiergarten und zieht eine zerrissene Unterhose hervor. Es ist Samstag, der Herbst hat die Bäume in Rot, Gelb und Orange getaucht, doch der gebürtige Brasilianer hat weder Augen für diese Farben noch für die frisch renovierte Löwenbrücke, sondern nur für die Dinge, die zwischen Gras und Unterholz liegen: Taschentücher, benutzte Kondome, leere Poppersflaschen, sogar ein Portemonnaie wird er später finden.
Zusammen mit acht weiteren Mitgliedern des Vereins Maneo läuft er abseits der Wege in Berlins größtem Stadtpark. Einmal im Jahr organisieren sie einen Aktionstag und räumen auf, denn dieser Teil des Parks wird seit über 100 Jahren als Cruising-Ort genutzt, genau wie der Rosengarten im Humboldthain, Teile der Hasenheide oder der Volkspark Friedrichshain. Rafael war hier auch schon abends und hat kein Problem, darüber zu sprechen.
„Ich habe fast ein poetisches Verhältnis zum Cruisen“, sagt er zu SIEGESSÄULE. „Denn selbst wenn ich keinen Sex habe, bin ich an einem schönen Ort, in Kontakt mit der Natur – nicht nur meiner eigenen.“ Deutlich weniger „poetisch“ ist, dass sich in diesem Jahr Meldungen über Angriffe auf schwule Männer in diesen Parks gehäuft haben. Auf SIEGESSÄULE-Anfrage kann die Polizei allein für den Volkspark Friedrichshain vier gemeldete Fälle bestätigen.
Besonders einer Mitte August machte Schlagzeilen: Eine Gruppe von acht bis zehn jungen Männern stürmte nachts das Cruising-Gebiet dort, das kurz zuvor eingezäunt worden war. Die Gruppe blockierte Ausgänge, trieb Menschen zusammen, schlug sie, raubte Handys und Wertgegenstände. Opfer berichten, sie seien verfolgt worden, hätten sich in Gebüsche flüchten und verstecken müssen.
Den Tätern, heißt es, sei bewusst, dass die Hemmschwelle für eine Anzeige vergleichsweise hoch sei.
Ende August brachte dann ein Abgeordneter der Grünen eine kleine Anfrage vor den Berliner Senat, um mehr über die Täter und Ermittlungen zu erfahren. Antwort: Der Berliner Polizei sei das Phänomen solcher Übergriffe bekannt. Den Tätern, heißt es, sei bewusst, dass die Hemmschwelle für eine Anzeige vergleichsweise hoch sei, weswegen eine enorme Dunkelziffer für alle vier Cruising-Gebiete zu vermuten ist. Auch deshalb steht an diesem Aktionstag im Oktober ein Zelt der Polizei mitten im Tiergarten als bekanntestem Hotspot. Dort liegen Flyer, Plakate und Postkarten mit Namen von Substanzen, die im Umlauf sind. Rafael findet es erstaunlich, dass die Polizei sich hier zeigt und den Kontakt sucht. „In meiner Heimat, in São Paulo, sind Polizisten die Feinde der Schwulen“, sagt er.
Vermehrte Fälle von Zwangsprostitution von Minderjährigen
Melanie Skiba ist eine der beiden Präventionsbeamtinnen vor Ort im Tiergarten. Sie erzählt, dass schon vor über 20 Jahren die ersten gemeinsamen Treffen mit Vereinen wie Maneo stattfanden, um Gewalt gegen Homosexuelle besser zu verstehen. „Wir sind inzwischen deutlich sensibilisiert für LGBTIQ*-Themen“, sagt sie. „Anfangs gab es spezielle Trainings, aber die neue Generation von Polizist*innen wächst mit diesen Themen auf.“ Kampagnen wie diese sollen Betroffene ermutigen, Vorfälle anzuzeigen – auch dann, wenn sie kein Deutsch sprechen. Einige der Plakate sind auf Englisch, Arabisch oder Russisch. Sie sollen auch jene erreichen, die nicht freiwillig hier sind.
Laut Polizei und Vereinen kam es nach 2015 vermehrt zu Fällen von Zwangsprostitution – teils auch von Minderjährigen. Heute überlagern sich die Themen rund um die Cruising-Szene: Hasskriminalität, Prostitution, Drogen. „Ein großes Problem, besonders seit diesem Sommer, sind K.-o.-Tropfen“, so Skiba. „Manche Täter lernen ihre Opfer in Bars kennen und schlagen vor, gemeinsam in den Park zu gehen. Dort bieten sie eine Flüssigkeit an – und die Opfer nehmen sie oft freiwillig. Dann werden sie ohnmächtig und ausgeraubt.“
„Zu Pandemie-Zeiten war es im Tiergarten nachts so voll wie kurz nach Mauerfall.“
Einer anderer, der an diesem Oktobertag mit der Wurstzange im Laub stochert, ist Bastian Finke, Gründer von Maneo. Er kennt alle Geschichten rund ums Cruisen in Berlin. „Zu Pandemie-Zeiten war es im Tiergarten nachts so voll wie kurz nach Mauerfall“, erinnert er sich. „Das war wie ein Volkswandertag.“ Damals fand er mit seinem Team auf einer Wiese über 100 gebrauchte Spritzen. Heute ist die Ausbeute bescheidener. „Jetzt sind es eher Drogen wie Monkey Dust oder Fentanyl, die uns Sorgen machen“, sagt Finke. Wenn Leute damit high im Park unterwegs sind, merken sie oft nicht, welche Risiken sie eingehen, auch in Bezug auf übertragbare Krankheiten.
Höhepunkt der Herbstaktion von Maneo und Polizei ist der Bereich rund um die Tischtennisplatten am Oswald-Schumann-Platz. Nicht weit entfernt liegt ein Kinderspielplatz. Diskretion sei nicht nur deshalb wichtig, sagen Finke und Skiba. Cruisen ist bei beiderseitigem Einverständnis zwar nicht verboten, kann aber unter Umständen als „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ gewertet werden – eine Ordnungswidrigkeit, die mit Geldstrafe oder Haft bis zu einem Jahr geahndet werden kann.
Mit einer urbanen Legende möchte die Polizei aufräumen: Das Beschneiden der Büsche sei keine Maßnahme zur Überwachung oder Verdrängung der Szene. Ein Polizist sagt zu SIEGESSÄULE: „Glauben Sie mir, die Büsche müssen einfach beschnitten werden.“
Kenner der Szene sehen im Cruising in Parks ein Paradox: Zum einen haben sich Schwule hier einen Ort geschaffen, an dem sie ihre Sexualität frei ausleben können – wo sie aber gleichzeitig maximal verwundbar sind, wenn es dunkel ist und auch ihre Feinde von diesem Ort wissen. Ein zweites Paradox ist, dass Schwule beim Cruisen körperliche Nähe suchen, aber keine wirkliche Zuneigung erfahren. Auch wenn die Outdoor-Saison jetzt vorbei ist, werden all die hier genannten Probleme nächstes Jahr aufs Neue starten. Rafael sagt: „Wir müssen aufeinander achten. Das ist der einzige Weg.“
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