Zum Nordischen Modell: Sexfeindlichkeit und Feminismus
Der Ruf nach einem Sexkaufverbot nach dem Nordischen Modell kommt nicht nur von antifeministischen Konservativen, sondern auch von (Radikal-)feminist*innen, die Frauen schützen wollen. SIEGESSÄULE-Kolumnist Jeff Mannes nimmt die Widersprüche dieser Position unter die Lupe und erklärt, warum die Stärkung von Sexarbeitsrechten ein feministisches Anliegen ist
In den letzten Wochen bin ich ständig über denselben Ruf gestolpert: Forderungen von Radikalfeminist*innen, Deutschland müsse endlich „mutig“ sein und das Nordische Modell einführen, das die Freier*innen bestraft. Angeblich, um Frauen zu schützen. In Wahrheit ist es ein Versuch, Sexualität und geschlechtliche Vielfalt erneut in enge moralische Raster zu pressen. Politiker*innen wie Julia Klöckner und Nina Warken verstärken diese Erzählung – ein Chor, der ein einfaches Märchen erzählt: Sexarbeit sei immer Gewalt, Kundschaft immer Täter, und der Staat müsse „befreien“. Abbildung der realen Komplexität von Sexarbeit? Fehlanzeige.
Dabei gibt es längst solide Daten: In Ländern wie Kanada führt die Kriminalisierung der Kundschaft regelmäßig dazu, dass Sexarbeitende in den Untergrund abgedrängt werden. Begegnungen werden hastiger, Vorabchecks schwieriger, und die Möglichkeit, Kondome durchzusetzen, sinkt. Gewalt steigt, Vertrauen in die Polizei sinkt, und ungewollte Schwangerschaften sowie die Risiken für HIV- und STI-Infektionen nehmen zu. Die Logik ist simpel: Wer jemanden kriminalisiert, zwingt die andere Person mit in die Illegalität – egal, wie sehr man behauptet, sie schützen zu wollen.
Als ich diese Fakten diskutiert habe, kamen oft zwei Reaktionen: Schweigen oder der Vorwurf, ich würde Frauen „hassen“. Eine bemerkenswerte Verkehrung, wenn man bedenkt, dass ich gerade auf reale Gewaltverhältnisse hinweise und auf die Stimmen jener Menschen, die in dieser Debatte am seltensten gehört werden.
Feminist Sex Wars
Historisch ist das alles nicht neu. Schon in den Feminist Sex Wars der 70er und 80er standen sich zwei feministische Lager gegenüber: eine Anti-BDSM-, Anti-Sexarbeit-, anti-pornografische Strömung, die Weiblichkeit essentialisierte und später oft transfeindlich argumentierte – und eine sexpositive, queere, später auch intersektionale Richtung, die Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellte. Letztere erinnerte daran, dass Geschlecht kein Naturgesetz ist, sondern sozial geformt. Simone de Beauvoir hat es früh formuliert: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“
Diese beiden Linien existieren bis heute nebeneinander, nur die Schlagwörter haben sich geändert. Der Radikalfeminismus betrachtet Sexarbeit weiterhin als Symbol patriarchaler Unterdrückung; sexpositive und queere Feminismen halten dagegen, dass Sexarbeit – wie jede Arbeit – unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Angela Jones, Sozialwissenschaftler*in und Autor*in von Sex Work Today, sagte mir im Interview für einen Longread-Artikel, den ich vor Kurzem für das luxemburgische Magazin forum geschrieben habe, dass es ein Fehler sei, Sexarbeit auf eine moralische Gesamterzählung reduzieren zu wollen.
Die globalen Interviews, die Jones für die Recherchen zum Buch geführt hat, zeigen: Für manche Menschen ist Sexarbeit eine Notlösung, für andere eine ökonomisch logische Wahl, für wieder andere ein Raum der sexuellen und geschlechtlichen Selbstbestimmung. Die Realität ist vielfältiger als das radikalfeministische Weltbild zugibt.
Für manche ist Sexarbeit eine Notlösung, für andere eine ökonomisch logische Wahl, für wieder andere ein Raum der sexuellen und geschlechtlichen Selbstbestimmung.
Auch Salomé Lannier, Juristin im Bereich Menschenhandel, erzählte mir, sie habe früher selbst an das Nordische Modell geglaubt. Erst die Auseinandersetzung mit Forschung habe ihr gezeigt, dass das Modell die Probleme nicht löst, sondern verschärft. Heute spricht sie offen darüber, dass feministische Politik ohne die Perspektiven der Betroffenen zur Bevormundung wird – und nicht zur Befreiung.
Kontrolle statt Aufklärung
Der Soziologe und Sozialarbeiter Wíner Ramírez Díaz, der in Paris täglich mit Sexarbeitenden arbeitet, sieht ein weiteres Muster: „Viele Debatten drehen sich nicht um die Menschen, sondern um Vorstellungen davon, was Sex sein sollte.“ In abolitionistischen Argumentationen werde Sexualität häufig als etwas betrachtet, das kontrolliert werden müsse – eine Haltung, die historisch eng mit der Regulierung bestimmter Körper verbunden sei: weiblich konnotierte Körper, Körper von Menschen mit Rassismuserfahrungen, queere Körper. Sexarbeit, so meint er, sei in diesen Debatten Teil dieser Kontroll-Logik.
„Viele Debatten drehen sich nicht um die Menschen, sondern um Vorstellungen davon, was Sex sein sollte.“
In den Gesprächen, die ich selbst mit Sexarbeitenden führe, finden sich neben negativen Erfahrungen auch viele schöne Erzählungen: Sexarbeiter*innen, die von positiven Begegnungen berichten, von Kontrolle über die eigenen Bedingungen, von Autonomie – und davon, wie sehr diese Realitäten in der politischen Debatte unsichtbar gemacht werden.
Das strukturelle Problem lässt sich klar benennen: Ein politisches Modell, das behauptet, Sexarbeitende zu schützen, aber ihre Perspektiven ignoriert, schafft eine seltsame Form von Pseudo-Feminismus. Es ist ein Feminismus, der Frauen (und allen anderen Geschlechtern in der Sexarbeit) bestimmte Rollen zuschreibt: die verletzliche, zu rettende Person; die rein zu haltende Sexualität; der Staat als fürsorglicher, aber strenger Vater. Gleichzeitig wird jede Abweichung davon pathologisiert – inklusive der Idee, dass Sexarbeit selbstbestimmt sein kann.
Die Kommentarspalten, durch die ich mich in den letzten Wochen gescrollt habe, bestätigen das. Dort geht es selten um Fakten oder Konsequenzen. Stattdessen dominieren moralische Fantasien – und eine geradezu panische Angst davor, dass Sexualität komplex, vielfältig und nicht staatlich steuerbar ist. Man klammert sich an das Bild einer Welt, in der Sex nur in bestimmten Formen akzeptabel ist und alles andere als Bedrohung interpretiert wird.
Das eigentliche Problem liegt deshalb nicht im Inhalt des Nordischen Modells. Es liegt in einer sexualfeindlichen Ideologie, die vorgibt, Frauen zu schützen, während sie ihnen gleichzeitig die Fähigkeit abspricht, Entscheidungen über ihren eigenen Körper zu treffen. Eine feministische Politik, die diesen Namen verdient, müsste das Gegenteil tun: Sexarbeiter*innen Rechte geben, sowie Räume schaffen, in denen Autonomie real ausgeübt werden kann – statt sie im Namen des Schutzes abzuschaffen.
Jeff Mannes ist Soziologe, Geschlechterwissenschaftler, Sexualpädagoge und bietet in Berlin Stadtführungen zu Sexualgeschichte, Clubkultur sowie queerer Geschichte an.
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