Zum Pornfilmfestival: Geschichte des Sexfilms neu beleuchtet
Trotz Neoprüderie und Queerfeindlichkeit boomt derzeit die Aufarbeitung der LGBTIQ*-Pornogeschichte. Auch die 20. Ausgabe des Pornfilmfestivals legt einen historischen Schwerpunkt, etwa mit einer Doku über „Pink Narcissus“-Schöpfer James Bidgood. Warum das bemerkenswert ist, beleuchtet unser Redakteur Kevin Clarke, Co-Kurator der Ausstellung „Porn That Way“
Die Zeiten, in denen Religionsvertreter*innen und andere Moralhüter*innen wetterten, Porno sei nichts als „Schund und Schmutz“, ohne künstlerischen Wert, sind weitgehend vorbei. Auch wenn immer noch einige politisch konservative Kreise meinen, für eine Volkssittlichkeit kämpfen zu müssen, und die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen gegen angebliche „Obszönitäten“ gern den Jugendschutz in Stellung bringt, was besonders für die Darstellung von queerem Sex gilt.
Darauf, dass es dabei um mehr geht als Sex, hat die US-Professorin Laura Kipnis schon 1996 in ihrem wunderbaren Buch „Bound and Gagged: Pornography and the Politics of Fantasy in America“ hingewiesen. Sie schrieb: Pornografie sei „ein Ort, an dem problematische soziale Themen verhandelt werden“, die viele Menschen beschäftigten, die aber gern unter der Hochglanzoberfläche einer Gesellschaft versteckt würden. Weswegen man „zwischen den Zeilen (oder zwischen den Körpern) lesen muss, um zu einer kritischen Exegese zu kommen“. Denn die Mehrzahl der Pornos (alternativer Porn ausgenommen) schert sich einen Scheißdreck um politische Korrektheit, sondern findet ungefilterte und rohe Bilder für das, was Menschen bewegt und erregt. Für ihre geheimsten Sehnsüchte und Ängste, für die sie sich möglicherweise schämen, die aber ein Ventil brauchen.
Der Journalist JC Adams, der lange eine Website zu schwulen Pornonews unterhielt, sagte 2011 in einem Interview für mein Buch „Porn: From Andy Warhol to X-Tube“, Pornos seien eine „interessante Spiegelung dessen, was gerade in einer Gesellschaft stattfindet“. In diesem Sinne sind die so unterschiedlichen Filme aus den verschiedenen Jahrzehnten immer auch eine Zeitkapsel: Man wird beim Zuschauen in andere Epochen mit anderen Körperidealen zurückgebeamt und erfährt, wie LGBTIQ* sich in früheren Jahrzehnten sexuelles Miteinander als Ideal vorstellten. Manche würden sogar sagen, als Utopie in Zeiten gesellschaftlicher Ächtung und Verfolgung. Was besonders für Pornos aus den 1960er- und 70er-Jahren gilt.
Da passt es gut, dass das Pornfilmfestival Berlin (PFFB) in seiner 20. Ausgabe einen besonderen Fokus auf Geschichte legt. Zum einen zeigen diverse neue Dokumentarfilme, dass es gerade in den USA – trotz Trump und MAGA – derzeit eine Aufarbeitungswelle der eigenen Sexualgeschichte gibt und eine Würdigung der Pioniere, die Pornos um 1970 aus einer Schattenexistenz ins Rampenlicht sowie ins Kino holten. Neben verschiedenen kürzeren Dokus sind zwei Titel in Spielfilmlänge hierbei besonders spannend: In „Velvet Vision“ zeichnet Regisseur Bart Everly ein Porträt des Visionärs James Bidgood und erzählt, wie dieser zwischen 1964 und 1970 in seinem winzigen Wohnzimmer in Manhattan „Pink Narcissus“ als Reihe von surrealen Sequenzen drehte – mit attraktiven Broadway-Darstellern und Drag-Ikonen wie Charles Ludlam, vor allem aber mit seinem damaligen Lover Bobby Kendall.
Bidgood schuf damit nicht nur eine Ästhetik, die bis heute in den Werken der schwulen Kitsch-Künstler Pierre et Gilles weiterlebt, sondern setzte sich deutlich von den Filmen ab, die zeitgleich auf dem schwulen Mainstreammarkt zirkulierten: meist mit Straßenjungs, die in billigen Hotelzimmern „bemüht“ übereinander herfielen, weil sie die paar Dollar Gage brauchten und nichts mehr zu verlieren hatten.
Superhelden-Parodie „Flesh Gordon“
Ganz anders die glitzernde Hochglanzwelt, mit der Bidgood Gay History schuf, wie Kunsthistoriker Jonathan D. Katz, aber auch Filmemacher John Waters betont. Beide zählen zu den Promis, die in „Velvet Vision“ zu Wort kommen. Es ist erschütternd, Bidgood in der Doku als alten Mann zu sehen, der zwar dank der Taschen-Verlag-Veröffentlichung der „Pink Narcissus“-Bildwelten 1999 zu neuer Prominenz kam. Ihn aber in seiner Messy-Wohnung-mit-Katze zu erleben ist schockierend. Wir erfahren, dass er vielfach die Nacht durchweint, weil er seit „Pink Narcissus“ kaum etwas Neues kreieren konnte und letztlich an sich selbst scheiterte. Was der Film ungeschminkt zeigt. Diese Szenen gehören zum Bewegendsten, was ich seit Langem gesehen habe.
Bidgood starb 2022 an den Folgen von Corona, man begleitet ihn also kurz vor seinem Tod. Das gilt auch für viele der Protagonist*innen in „Finding Planet Porno: The Wild Journey of American Cinema‘s First Outlaw”. In der Doku von Regisseur Christian Genzel geht es um einen der Pioniere von Heteropornos: Howard Ziehm. Er schuf mit seiner Superhelden-Parodie „Flesh Gordon“ von 1974 einen Meilenstein der Sexkinogeschichte. Die Genzel-Doku skizziert Ziehms Karriere, zeigt Szenen aus „Flesh Gordon“ und anderen wichtigen Ziehm-Arbeiten der 70er.
Was den Film aber außergewöhnlich macht, sind die vielen Protagonist*innen von damals, die nun als alte Menschen reflektieren, was es für sie bedeutete, als „junge Wilde“ in diesen Werken mitgewirkt zu haben – sie erläutern, wie sich das auf ihr weiteres Leben auswirkte. Erst am Ende erfährt man, dass sie fast alle inzwischen verstorben sind.
James Bidgood schuf eine Ästhetik, die bis heute in den Werken von Kitsch-Künstlern wie Pierre et Gilles weiterlebt.
Welch Glück, dass sie ihre Storys in diesem Film noch erzählen konnten. Ein Paradebeispiel dafür, wie Geschichte im Film verewigt werden kann. Für mich sind deshalb „Velvet Vision“ und „Finding Planet Porno“ die zwei ganz großen Empfehlungen beim diesjährigen Festival, bei dem auch „Flesh Gordon“ in restaurierter Fassung läuft.
Eigentlich hätte „Erotikus: A History of the Gay Movie“ gut als Ergänzung zum Festivalprogramm gepasst. Tom DeSimone zeigte darin 1973, was bis dahin an schwulen Pornos entstanden war, und schildert den Übergang zu einer neuen Ära, in der Super-8-Kurzfilme nicht mehr per Post verschickt und allein zu Hause geguckt werden mussten, sondern man Spielfilme mit Handlung(!) gemeinsam mit anderen im Kino schauen konnte. Berühmte Beispiele sind „Boys in the Sand“ (1971) von Wakefield Poole oder „L.A. Plays Itself“ (1972) von Fred Halsted, der in „Erotikus“ den nackten Erzähler gibt, der uns auf eine Zeitreise der anderen Art mitnimmt.
Interessanterweise kursieren aktuell viele dieser alten Filme auf verschiedenen Internetportalen, sogar „Erotikus“ in voller Länge. Auf diversen X-Kanälen (vormals Twitter) zirkulieren ebenfalls zunehmend Szenen aus alten Filmen unter Hashtags wie Vintage, Classic und Retro. Das heißt, Interessierte können erstmals seit über 50 Jahren diese alten Streifen sehen, nachdem man lange nur den Filmtitel, Einzelfotos oder Poster kannte. Zwar sind etliche der (oft illegal) im Netz hochgeladenen Clips nicht restauriert und brutal zerstückelte Ausschnitte aus längeren Filmen, aber trotzdem: Da tut sich was!
Aktuell kursieren viele dieser alten Filme auf X-Kanälen und sind zum ersten Mal seit 50 Jahren wieder zugänglich.
Parallel findet eine Aufarbeitung der Pornogeschichte durch Filmemacher wie Everly und Genzel oder Autor*innen wie Laura Kipnis beziehungsweise Jeffrey Escoffier („Bigger Than Life: The History of Gay Porn Cinema From Beefcake to Hardcore“) statt. Zudem gibt es umfangreiche Restaurierungsarbeiten durch Einzelpersonen und kleine Firmen. Das ist erwähnenswert, weil Pornos ansonsten nicht von Filmarchiven oder Museen als Kulturgut gesammelt werden. Das Schwule Museum Berlin ist da eine Ausnahme, mit einer großen DVD- und Super-8-Kollektion, die zwar 2015 in der Ausstellung „Porn That Way“ gezeigt wurde und viel Publikum anlockte, aber noch nicht digitalisiert werden konnte. Das gilt auch für die umfangreiche Pornomagazinsammlung im SMU, die weltweit singulär ist und die Print-Alternative zu all den Filmen darstellt, die das PFFB behandelt.
Lesbische Filme aus San Francisco
Während im Bereich des Hetero- und Schwulenpornos so unendlich viel Historie vorhanden ist und beackert wird, geht eine Geschichte der feministischen und lesbischen Pornografie erst in den 1980ern in San Francisco los, authentische Pornos von trans* Darstellenden gibt es sogar erst seit noch kürzerer Zeit. Das PFFB hat auf die Entwicklungen immer wieder hingewiesen, mit Schwerpunkten zu dem ersten Lesben-Porno-Label „Fatale“ oder mit Wiederaufführungen älterer Werke von Monika Treut oder Krista Beinstein.
Mit „Sorrow Bay“ von Casey Calvert wird 2025 ein aktueller lesbischer Pornospielfilm aus den USA gezeigt, der wohl erst in einigen Jahrzehnten bei einer Historie der lesbisch-queeren Pornografie eingeordnet werden wird.
Im Kurzfilmprogramm „Queer History“ beleuchtet das PFFB viele weiterführende Aspekte. Nguyen Tan Hoang untersucht in „Eavesdropping on Jason Sato‘s Brothers“ die Unsichtbarkeit asiatischer Männer im Mainstreamporno und analysiert das Beispiel des US-japanischen Regisseurs Jason Sato, der 1973 den skandalösen Inzestfilm „Brothers“ drehte, der das Schicksal eines jungen US-Soldaten behandelt, der nach Vietnam geschickt wird. Der Kurzfilm „Les fantômes du hard“ wiederum zeigt junge Hausbesetzer*innen von heute, die zufällig die Geschichte des ersten BDSM-Clubs in Marseille in den 1960er-Jahren und viel BDSM-Pornomaterial entdecken.
Grundsätzliches Anliegen des Festivals ist es zu zeigen, dass Pornografie ein weltweites Phänomen ist und nicht nur aus den USA kommt, auch wenn das der größte und wichtigste Markt ist. Ebenso soll betont werden, dass es in der Pornogeschichte nicht nur um weiße Menschen mit superfitten Luxuskörpern geht. So gibt es beispielsweise mehrere Filme aus Taiwan, wie „Gang of Brothers“ (schwul) oder „Dying to Sex“ (hetero), letzterer eine Dystopie zum Thema Zensur. Die Doku „Bomba Bernal“ setzt sich derweil mit der philippinischen Pornogeschichte auseinander.
Pornos als Gruppenerlebnis – wie früher in Sexkinos – ist eines der Kernmerkmale des PFFB. Historisch gesehen gab es solche Gruppenerlebnisse immer nur für Männer, Sexkinos für Frauen existierten nie. Und Locations wie die legendäre Toms Bar in Schöneberg, wo Pornos nonstop im Hintergrund auf TV-Bildschirmen (ohne Ton!) liefen – so was gab es nur in der schwulen Subkultur. Nirgends sonst.
Kurz: Für junge LGBTIQ* bietet das PFFB eine aufregende Zeitreise in Epochen, die vielen wenig vertraut sind. Für Ältere sind besonders die Dokus ein Trip in die eigene Vergangenheit, der manchmal seltsam bewegend sein kann.
SIEGESSÄULE präsentiert
Pornfilmfestival Berlin
21.–26.10., Colosseum Kino, Babylon Kreuzberg, Moviemento
Eröffnung: 21.10.,
20:30, Colosseum,
„Fucktoys“ in Anwesenheit der Regisseurin, anschließend Party
pornfilmfestivalberlin.de
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