Zum Tod von Jörg Schröder: Radikal – aber niemals konsequent!

Am 13. Juni starb Jörg Schröder, der 1969 den legendären März-Verlag ins Leben rief. Warum die Arbeit des Berliner Verlegers auch bedeutend für die Community war, erklärt Künstler, Autor und Wegbegleiter Wolfgang Müller in seinem Nachruf
Es war irgendwann um 1972, als mein 60-jähriger Deutschlehrer Dr. Paul wütend in die Klasse stürzte. Das Lehrerkollegium habe ihm untersagt, Sexualkundeunterricht zu geben, sagte er uns Vor- oder Nachpubertierenden. Einige Eltern hätten gegen die von ihm geplante Einführung von Sexualkunde protestiert. Der aufgebrachte Klassenlehrer knallte einen Zettel auf meinen Tisch und sagte: „Und weil mir das untersagt wurde, müsst ihr nun Wolfgang nach dem Buchtitel fragen.“ Auf dem Zettel stand „Sexfront, März-Verlag“. Tatsächlich kannte ich schon ein paar Bücher vom März-Verlag, „ACID“, die Comics von Robert Crumb und das „Orgien Mysterien Theater“. Allein durch seine Gestaltung stachen die Bücher aus dem Einerlei des deutschsprachigen Verlagswesens heraus, gelb-rot-schwarzes März-Design, fette Blockschrift.
Homosexualität ist kein Sonderfall
Heute weiß ich, dass das März-Buch „Sexfront“ von Günther Amendt nicht nur mir, sondern auch vielen anderen jungen Menschen das Leben gerettet hat. Das Buch erschien 1970, also nur kurze Zeit nach Aufhebung des Nazi-Paragrafen 175. Es ist das erste deutsche Aufklärungsbuch, in dem ohne jede Verklemmtheit und falsche Rücksichtnahme über Sexualität gesprochen wird. Alle Möglichkeiten wurden dabei als gleichwertig betrachtet. Homosexualität ist in „Sexfront“ erstmals kein Sonderfall, sondern lediglich eine Facette aller Sexualitäten. Erlaubt ist, was im gegenseitigen Einvernehmen gleichberechtigter Partner geschieht. Das Buch erreichte eine Auflage von 400.000 Exemplaren und noch viel mehr Leser*innen.
Der offen schwule Autor, der Sozialwissenschaftler Amendt bediente sich im Buch erstmals einer jugendgemäßen Sprache, die gleichzeitig ironisiert wird. Die Illustrationen orientieren sich an Comics und Pop-Art. Unter anderem nahm das Buch eine vom Deutschen Sportbund erst 1970 gestartete Kampagne auf und ließ das Maskottchen Trimmy mit gut sichtbarer Erektion fordern: „Trimm dich: Fick mal wieder!“
Liebe auf den ersten Blick
Den März-Verleger Jörg Schröder und seine Lebenspartnerin Barbara Kalender lernte ich einige Jahrzehnte später in Berlin kennen – es war Liebe auf den ersten Blick. Mir kam es so vor, als würden wir uns schon seit ewigen Zeiten kennen. Jörg Schröder hatte seinerzeit den März-Verlag auch mit den Erlösen gegründet, die er nach Aufhebung des Pornoverbotes 1969 mit Büchern verdiente. Zu den Übersetzern seiner Erotika und Pornos gehörte beispielsweise der Taxifahrer Joschka Fischer. Wie alle Beauftragten übersetzte der spätere Außenminister unter einem Pseudonym, um eine mögliche spätere Kariere nicht zu gefährden. Amüsiert berichtete mir Jörg, wie ein Bild-Reporter einmal vor seinem Berliner Mietshaus stand und telefonisch um die Lüftung des Pseudonyms von Fischer bettelte: „Sie haben eine Verpflichtung, sie sind doch eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte …“ Natürlich erhielt der Bild-Reporter keine Auskunft.
Zwischen Politik, Kunst und Pornographie
Die über zweihundert März-Titel, die von 1969 bis 1987 unter anderem auch durch die enormen Erlöse der Sexbücher finanzierbar wurden, wandern munter zwischen den Kategorien von Belletristik, Politik, Kunst und literarischer Pornographie umher. Außerdem schrieb Schröder, der „Erfinder des erweiterten Verlegertuns“ (Diederichsen) geniale Bücher wie „Cosmic“ und „Siegfried“. „Siegfried“ wurde nach dem Erscheinen mit Verleumdungsklagen in ungekannten Ausmaßen überzogen und war irgendwann nur noch mit geschwärzten Zeilen erhältlich.
Anfang 1990 erfand Schröder deshalb eine neue Ausdrucksform, die er in gleichberechtigter Co-Autorenschaft zusammen mit seiner Partnerin Barbara Kalender ausführte: In der Reihe „Schröder erzählt“ erzählte er seine Geschichten: „Wie Kultur und Kulturpolitik von Menschen gemacht werden und wie alles mit allem zusammenhängt.“ Bei klarer Nennung von Ross und Reiter. Ein Lager, in dem die Bücher von der Justiz beschlagnahmt werden konnten, existierte nicht. Als einer von rund 400 Abonnenten weltweit erhielt ich halbjährlich eine Rechnung, überwies und bekam die neuste Ausgabe, es wurden insgesamt 68 Ausgaben und sechs Treueausgaben. Als Mitglied der März-Gesellschaft kam ich regelmäßig zu deren Veranstaltungen, Lesungen, Filmvorführungen und Kunstpräsentationen. „Wieso finden sich unter den März-Büchern eigentlich so viele lesbische oder schwule Bücher?“, fragte ich Jörg mal. Er antwortete: „Wieso viele? Na ich dachte, 10 Prozent sollten es mindestens sein, wenn es ausgewogen sein soll.“
Am 13. Juni starb März-Verleger Jörg Schröder in Berlin, dort, wo er vor 81 Jahren geboren wurde. Mit seinem Tod verliere ich ein Vorbild und einen lieben Freund. Er und seine Partnerin Barbara sind ein Beleg dafür, dass man auch ohne Reichtümer anzuhäufen, ein luxuriöseres, erfüllteres und fröhlicheres Leben führen kann. Und wie angenehm es sich lebt, wenn man sich nicht dem Blendwerk des Kunst- und Kulturbetriebs anpasst, sondern stattdessen eigenen Entdeckungen vertraut.
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