Europawahl

Come out and vote!

21. Mai 2014
© Petra Schmidt /pixelio.de

– „Come out and vote!" - mit diesem Slogan rührt die ILGA Europe (International Gay and Lesbian Association), der über 400 Mitgliedsorganisationen aus 45 der 49 europäischen Länder angehören, die Werbetrommel für die Europawahlen. Ihre Argumente in Kurzfassung: Die Europäische Union war die erste internationale Organisation, die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität offiziell als Kategorie einer möglichen Diskriminierung festschrieb. Es gibt noch immer viel zu tun in Bezug auf Gleichstellung und Antidiskriminierungspolitik. Wenn aber, wie befürchtet, rechtspopulistische Parteien an Einfluss gewinnen, dann sieht es in dieser Hinsicht düster aus.

20 Prozent der Abgeordneten im EU-Parlament könnten aus rechtspopu-
listischen Parteien kommen

In der Tat hat der Rechtstruck in Europa durch die Euro-Krise einen heftigen Schub bekommen. Auf dem Nährboden von „Überfremdungsängsten", die sich einerseits aus Angst vor konkreter Zuwanderung, andererseits aus diffusen, teils rassistischen Ressentiments gegenüber dem Fremdem an sich und im Besonderem dem Islam speisen, gedieh der Aufstieg der Rechtspopulisten schon seit Jahren. Die Euro-Krise wiederum schürte nicht nur Abstiegsängste, sondern verursachte ganz konkreten sozialen Abstieg. Nun suchen nicht wenige EU-Bürger ihr Heil in der Flucht zu sich selbst und der Nation: Raus aus dem Euro, Raus mit den Ausländern und back to the Roots. So prognostiziert Emnid der Afd derzeit ein Ergebnis von sieben Prozent. Auch ohne das umstrittene Urteil des Karlsruher Bundesverassungsgericht vom Februar, die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl zu kassieren, hätte „Die Alternative für Deutschland" also gute Chancen, erstmals rechtspopulistische deutsche Abgeordnete in das EU-Parlament zu entsenden. Sieht man sich die gesamteuropäische Konstellation an – der französiche Front National kommt laut Prognosen auf bis zu 23 Prozent, die österreichische FPÖ auf 22 Prozent –, zeichnet sich ab, dass rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien um die 20 Prozent der Abgeordneten im neuen EU-Parlament stellen könnten.

Um dies zu verhindern, müssten möglichst viele Bürgerinnen und Bürger ihre Stimmen in den Ring werfen, die sich einen anderen Weg für die Zukunft Europas wünschen. Werden also queere Menschen dem Aufruf der ILGA folgen und zur Wahl gehen? Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Europa und seine gesetzgebenden Institutionen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Zeitgleich sinkt die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen auf geradezu beklemmende Weise: 1989 beteiligten sich bundesweit 66 Prozent, 2009 waren es nur noch 43 Prozent.

Doch für Schwule und Lesben ist die Bedeutung der Europolitik nicht zu unterschätzen. So hatte zuletzt der Europäische Menschengerichtshof in Straßburg das fehlende Recht homosexueller Paare in Deutschland (und Österreich) gerügt. Klar, eine Rüge ist nur eine Rüge – und doch wird auf diesem Weg zumindest eine Richtung vorgegeben, die es den bremsenden Parteien der Union zumindest schwerer macht, die endültige Gleichstellung von Schwulen und Lesben zu blockieren: Stets wartet man auf entsprechende Urteile aus Karlsruhe, so wie aktuell in Bezug auf ein umfassendes Adoptionsrecht für homosexuelle Paare.

Deutschland ist in Sachen Antidiskrimi-
nierungspolitik ein Bremsklotz

Auch in Bezug auf die europäische Antidiskriminierungspolitik betätigt sich das Unions-geführte Deutschland noch immer als Bremsklotz, LGBTI sind daher derzeit zwar (mit Ausnahmen) am Arbeitsplatz vor Diskriminierung geschützt, nicht aber zivilrechtlich. Was bedeutet, dass ihnen der Zugang zu Dienstleistungen weiterhin verweigert werden darf: So kann man etwa in Polen straffrei schwule Paare aus dem Restaurant werfen oder in Litauen lesbischen Paaren einen Mietvertrag verweigern. Verrückt ist, dass so etwas in Deutschland seit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz von 2006 nicht mehr möglich wäre, die Deutschen sich aber weiterhin der EU-Komission verweigern – eine solche Gesetzgebung gefährde angeblich die Wirtschaft.

Das angebliche „Gayropa“, also jener „schwule Kontinent“ von dem man sich nun in Russland in chauvinistisch-nationalistischer Manier abzugrenzen sucht, ist sich seiner selbst in dieser Hinsicht noch gar nicht sicher. In Wirklichkeit ist die europäische Toleranz gegenüber einer anderen sexuellen Orientierung, gar einer anderen geschlechtlichen Identität, noch recht jung.

Umso gefährlicher ist daher der Vormarsch jener rechtspopulistischen Kräfte, die gegen die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte agitieren – auch gegen die Gleichberechtigung von LGBTI. Nationalismus war schon immer der natürliche Feind von Schwulen und Lesben, und er wird es auch in Zukunft sein, ganz einfach, weil es kein „Wir“ ohne „Die Anderen“ gibt. Die AfD geht mit subtilen aber hinreichend deutlichen Botschaften auf Stimmenfang bei solchen Wählern, denen die CDU/CSU in dieser Hinsicht zu liberal geworden ist: Wir sind zwar nicht gegen Schwule, aber für Familien. Man hat begriffen, dass sich mit der LGBTI-Minderheit trefflich Identitätspolitik machen lässt: Wer sind wir? Und wer sind die Anderen? Die Angehörigen der Minderheit selbst sind eher Geiseln als Akteure.

In Europa gibt es ein großes Potential für die Anerkennung von Vielfalt

Es reicht nicht, beim Eurovision Song Contest per SMS für Conchita Wurst gestimmt zu haben, man muss auch – wenigstens – zum Briefkasten gehen. Der Sieg der bärtigen Diva aus Österreich hat gezeigt, dass es in Europa sehr viele Menschen gibt, die mit dem Begriff Vielfalt etwas anfangen können. Es gibt diese Menschen auch in Ländern, in denen sie niemand vermutet, zum Beispiel in Polen, Litauen und Kroatien. Auch in Russland.

Umso wichtiger ist, dass möglichst viele dieser Menschen zur Wahl gehen. Es gibt kein "Gayropa". Vielmehr ist die Europäische Staatengemeinschaft ein höchst fragiles Gebilde, das gerade um seine Existenz ringt. Ein Gebilde, in dem LGBTI vergleichsweise sicher und frei leben können. Wer weder Geisel sein noch in Zukunft in seiner Freiheit beeinträchtigt werden möchte, geht besser zur Wahl. 

Martin Reichert

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