Hauptsache dagegen

– Zumindest in Deutschland kann man sich nach dieser Europawahl – relativ – entspannt in den abendlichen Biergarten setzen: Ja, die AfD hat die prognoszitierten sieben Prozent erreicht und ist auf dem besten Weg, die FDP abzulösen, also jene Partei, die zwar noch nicht tot ist, aber schon etwas streng riecht. Aber ansonsten? Die CDU hat die meisten Stimmen, danach kommt die SPD ... Wenn man vom Einzug der AfD absieht, geht hierzulande alles seinen gewohnten Gang. Was auch für LGBTI weiterhin bedeutet: In Zeiten der GroKo ist mit einer weiteren konsequenten Angleichung von Rechten nicht zu rechnen; es bleibt bei der Suzsessivadoption, ein volles Adoptionsrecht für homosexuelle Paare wird es dank Blockade der Union nicht geben.
In anderen Ländern ist die Lage weit weniger entspannt
So weit, so frustrierend. Doch in anderen europäischen Ländern ist die Lage weit weniger entspannt als in der windstillen Merkel-Republik. Schön und gut, das Geert Wilders Partei PVV in den Niederlanden eine Schlappe erlitten hat – zu weit nach rechts hatte er sich zuletzt aus dem Fenster gelehnt („Wollt Ihr mehr oder weniger Marrokaner?"), ein „Move", der von seinen bürgerlichen Wählern nicht goutiert wurde. Aber Frankreich? Man kann sich nur mit Mitteln der Bruchrechnung trösten, denn bei nur einem Drittel Wahlbeteiligung sind 25 Prozent für den Front National nicht mehr ganz so repräsentativ für den Zustand der „Grande Nation".
Und doch war es ein Triumph für Marine Le Pen. Hinzu kommt der Aufstieg der Ukip (28 Prozent) in Großbritannien, der erwartbare Erfolg der FPÖ in Österrreich (20 Prozent). Bei aller Fixierung auf die rechtspopulistischen Parteien droht allerdings ein anderer, erschreckender Aspekt dieser Wahlen aus dem Blick zu geraten: Das etablierte Parteiensystem ist in vielen Euro-Ländern ziemlich durcheinander gewirbelt worden. In Spanien zum Beispiel brachen sowohl die Konservativen als auch die Sozialisten ein. In Griechenland wählten die meisten Unzufriedenen dieses mal links, nämlich die Syriza.
Statt des etablierten Parteiensystems wählt man eher irgendwas
Unzufriedenheit ist das Stichwort: Während man in den nördlichen, wohlhabendern Ländern der Europäischen Union eher rechts wählt, um seine Pfründe zu retten, tendiert man in den südlicheren, von der Krise gebeutelten Ländern zur (verständlichen) Wutbürgerei. Die Etablierten werden abgestraft und man wählt eher Irgendwas, Hauptsache dagegen. Aber kann das gut sein für eine Minderheit wie die LGBTI? Unruhe und Unzufriedenheit, instabile Verhältnisse und wirtschaftliche Unsicherheit waren noch nie gut für Minderheiten – jedenfalls in der Geschichte. Ehe man sich umsieht, wird man zum Sündenbock für Dieses oder Jenes – mal sind es Schwule und Lesben, mal sind es Sinti und Roma ...
So ganz beruhigt kann man als LGBTI vielleicht doch nicht in den Biergarten gehen. Wenn da nicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wäre – denn der ist und bleibt auf jeden Fall ein Garant dafür, dass „unsereins" in Europa weiterhin in einem geschützten Rahmen existieren kann.
Martin Reichert