Die Wahrheit liegt dazwischen: Wolfgang Tillmans im HKW

Die Gästeschar, die zu Hunderten in das Haus der Kulturen der Welt strömt, ist auffällig jung. Mindestens eine Generation jünger als Wolfgang Tillmans selbst — der Anfang der 90er Jahre als Chronist seiner Generation, vor allem der Londoner Club- und Schwulenszene galt. Seitdem hat sich der Künstler und Fotograf immer wieder radikal neu erfunden, komplett neue Arbeitsweisen und Präsentationsformen entwickelt. 2005 begann er mit der Werkserie „truth study center“: Installationen auf Tischen. Diese Materialsammlungen oder Collagen bestehen aus verschiedensten Bildformaten und Inhalten und gehen der Frage nach, wie sich die Welt mithilfe der Kunst noch erfassen und verstehen lässt. Deren Abschluss wird nun mit einem Buch gefeiert: „What’s wrong with redistribution?“ ist der Titel.
Andächtige Stille im Publikum begleitet eine Dia-Show zu Beginn. Sie zeigt in der Draufsicht auf Tischen arrangierte Fotos, Kunstpostkarten, Ausschnitte von Landkarten, Briefmarken. Und sehr viele Originale und Kopien aus Printmedien, hauptsächlich Artikel aus dem Kontext der Entstehungszeit — auffällig viel Text für einen Künstler, der als Fotograf bekannt wurde. Der US-amerikanische Kunsthistoriker Thomas McDonough hat nicht nur das Vorwort geschrieben, sondern nimmt auch zu Beginn der Veranstaltung eine kunsthistorische Einordnung vor. Mit dem collage-artigen Arrangement sieht er den Fokus auf das „Dazwischen“ der Objekte gerichtet. Als mögliches Vorbild nennt er mit Robert Rauschenberg einen Wegbereiter der Pop Art. Man könnte vom Versuch einer Musealisierung Tillmans sprechen — wäre er nicht schon längst in allen wichtigen weltweiten Sammlungen präsent. Auch der Hamburger Bahnhof besitzt eine seiner frühen truth study center Installationen und präsentiert diese gerade neu.
Im zweiten Teil des Abends gibt Tillmans in seiner ruhigen, reflektierten Art seine Motivationen für das „truth study center“ preis. Auffällig etwa ist, dass auf den Tischen immer wieder Fotos von und Texte über Tony Blair auftauchen. Als Tillmans 2005 mit der Werkserie begann, hatte sich der Labour-Premierminister gerade „vom Hoffnungsträger zur tragischen Figur entwickelt“. Sowohl was seine Rolle bei der fortschreitenden Neoliberalisierung betraf, als auch die im Irakkrieg, bei der er sich an die Seite der Amerikaner stellte. „Ich habe damals wie viele andere die Krise gekriegt,“ bekennt Wolfgang Tillmans. Selbst war er gerade in einer Werkphase, in der er die Kamera beiseite gelegt hatte und sich auf abstrakte Experimente in der Dunkelkammer beschränkte. Von den politischen Entwicklungen war er aufgerüttelt, wollte sich aber anderseits nicht dadurch zwingen lassen, selber die Kamera wieder in die Hand zu nehmen. „So entwickelte sich die Möglichkeit einer Parallelpraxis: Ich nutzte Autoren und Fotografen als Verstärker, die sich besser ausdrücken konnten als ich zu dieser Zeit.“ Der Fotograf Tillmans wird so — ganz ohne eigene Kamera — zum Beobachter des Weltgeschehens, das er auf seinen Tischen neu arrangiert. Ein weiterer Bruch mit bisherigen Arbeitsweisen. Es ist diese Fähigkeit, seine eigene Rolle als Künstler immer wieder neu zu definieren, die ihn auch für die nachfolgenden Generationen weiterhin interessant bleiben lässt.
Carsten Bauhaus