Antje Rávic Strubel in Höchstform

Es gibt Bücher, bei denen man schon nach wenigen Seiten weiß, dass man sie bis zu ihrem Ende nicht mehr aus der Hand legen wird. Der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Antje Rávic Strubel ist mit ihrem neuesten Werk „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ ein Episodenroman von dieser Sogkraft gelungen.
Gleich zu Beginn wirft Strubel ihre Leserschaft in das kalte Wasser einer sterbenden Liebe. Buchstäblich, denn Katja und René befinden sich auf einer Kanutour in Schweden, als sie nicht mehr zueinanderfinden können. Katja, die Ältere, hat „schon die Zapfhähne im Roses, im Bierhimmel, im Berghain bedient und ist in Safer-Sex-Performances aufgetreten“, während René noch als Jungspund in Neuruppin gewohnt hat. Dennoch sagt René oft „mein Mädchen“ zu ihr, wodurch sich Katja unsichtbar und nicht gemeint fühlt – als würde René einen Körper begehren, den es gar nicht gibt. Es kommt zum Bruch und René paddelt allein in die Nacht hinaus. Kulissenwechsel: Emily und Leigh reisen durch den Sequoia-Nationalpark, USA. Emily begehrt den Studenten und sagt: „Du hast mir nie erzählt, seit wann du weißt, dass du ein Junge bist.“ Später wird ihr Verschwinden zu einem zentralen Thema des Romans.
In kontrastreichen Episoden begegnen sich die Figuren in den verschiedensten Konstellationen und Zeiträumen an unterschiedlichen Orten: in Schweden, in Brandenburg, in den USA. Immer sind sie in Bewegung und auf der Suche. Nichts scheint konstant zu sein oder einen festen Kern zu haben. Begehren, Körper, Orte, Zeitlinien geben keine Koordinaten zur Orientierung. Gibt es Zufälle oder einen mysteriösen Plan? Strubel, die erfahrene Reiseschriftstellerin, versteht es virtuos, die Schicksale miteinander zu verweben, ohne jemals zu viel preiszugeben: Immer bleiben Unschärfen in den Geschichten, deren Geschehnisse sprachlich präzise ausgeleuchtet werden und gleichzeitig atmosphärische Schatten werfen, die faszinierend und unheimlich zugleich sind. Und gerade dadurch, dass sich Strubel einem neudeutschen „LGBT-Jargon“ entzieht, um ihre Figuren zu beschreiben, gerät sie nicht in das oberflächliche Fahrwasser politischen Zeitgeistes, sondern erzählt mit großer Intensität von den bedeutenden Lebensthemen, ohne zu verallgemeinern oder an heterosexuelle Blaupausen anzupassen. „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ dürfte ihr queerster Roman sein, und ganz sicher ist es ihre bisher beste Literatur, die man durchaus in die Nähe von Carson McCullers und Annemarie Schwarzenbach rücken darf.
Stephanie Kuhnen
Antje Rávic Strubel: „In den Wäldern des menschlichen Herzens“, S. Fischer, 272 Seiten, 19,99 Euro