Rivalisierende Gangs und ein schwuler Twist im Videoclip zu Boys Noize „Overthrow“
– Der Berliner DJ und Produzent Boys Noize a.k.a. Alex Ridha erschafft genau die Art von stampfender Electromucke, die man – sein Künstlername legt es nahe – mit männlichem Mackertum assoziieren würde. Seine Karriere, die 2003 noch als Kid Alex mit dem Hit Young Love (Topless) begann, spannt einen interessanten Bogen: während er auf der einen Seite Mainstream-Acts wie Depeche Mode oder die Black Eyed Peas remixte, blieb auf der anderen Seite immer auch genug Raum für neue Talente (die er mit seiner Plattenfima Boys Noize Records unterstützte) und unerwartete Kollaborationen, zum Beispiel mit Peaches oder den Scissor Sisters.
Die neue Boys-Noize-Single „Overthrow“ ist ein fetter Ravetrack. Das kürzlich veröffentlichte dazugehörige Video eröffnet neue Perspektiven und regt mit seinem schwulen Showdown zum Nachdenken an. Regie führte der Seapunk-Erfinder @LILINTERNET, der bereits Clips für Beyoné und Skrillex drehte. Im Abspann des Videos zu „Overthrow“ folgendes: „Ein ganz, ganz besonderer Dank geht an Shawn Frausto, der mehr für dieses Videoprojekt getan hat, als wir jemals erwartet hätten. Und dafür, dass er seine unglaubliche Geschichte mit und geteilt hat.“ Grund genug für SIEGESSÄULE, mit @LILINTERNERT und Frausto – der als Tattoo-Künstler in L.A. Lebt und arbeitet – Kontakt aufzunehmen, um über den schwulen Clip und die ungewöhnliche Geschichte dahinter zu sprechen
Wie entstand das Konzept zum „Overthrow“-Video?
@LILINTERNET: Die Idee entstand während eines Gesprächs mit Boys Noize. Ich hatte diese Vorstellung von rivalisierenden Gangs im Video, die am Ende irgendwie zusammen finden. Es sollte in jedem Fall am Ende etwas passieren, das man so nicht erwarten würde. Alex sagte: „Was wäre, wenn das Video in einem Schwulenclub ende würde und all die Typen eigentlich schwul wären?“ Wir wussten sofort, dass das die Idee war, die wir umsetzen wollten. Auch, weil der Song so ein düsteres, aggressives Industrial-Techno-Brett ist, der sich ohnehin schon nach Berghain-Darkroom anhörte. Uns gefiel außerdem das verstörende dieses Konzepts. Wir beide haben durch unsere Musik, Arbeit, durch Freunde und das Nachtleben eine Menge Erfahrungen mit diesem härteren und maskulineren Teil schwuler Kultur. Dieser Teil der Community entspricht so null den gängigen Stereotypen, schon gar nicht in den USA.
Shawn, wie ist es zu der Zusammenarbeit mit @LIL gekommen?
Shawn Frausto: Ich war in einem Club in L.A., der ein sehr gemischtes Publikum hatte. Ich tanzte mit einem Freund aus Australien, wir rieben uns aneinander und die Leute flippten aus. Irgendwer kam an, schüttelte mir die Hand und fragte, ob er ein Foto von meinen Tattoos machen dürfe. Er sagte, es sei für ein Video, an dem er gerade mitarbeiten würde. Ich dachte, der Typ sei einfach bloß irre.
@LIL: Ich hatte meinen Freund Sam Cormier gebeten, tätowierte und hart aussehende schwule Kerle zu casten.
Shawn: Sam meinte zu mir, dass ich ihm Bescheid sagen solle, wenn ich noch andere krasse schwule Typen mit Tattoos und vielleicht einem Pit Bull kenne. Ich meinte nur: „Yo, ich habe einen Pit Bull. Sein Name ist London.“ Ich sagte dann einfach allen Kunden aus meinem Tattoostudio Bescheid.
@LIL: Nachdem Sam Shawn gefunden hatte, rutschte der Clip auf eine ganz neue Ebene. Shawns persönliche Geschichte hat uns echt umgehauen.
Was ist denn deine Geschichte, Shawn?
Shawn: Zwei meiner Onkel wurden ermordet, einem weiteren wurde in den Kopf geschossen, nun ist er gelähmt und er sitzt im Knast. Ein Cousin von mir wurde gerade aus der Haft entlassen. Ich wuchs in einer Familie auf, in der es ständig nur darum ging, den Sohn von irgendjemand anderen zu töten. Und irgendwelche Leute aus anderen Gangs wollten ständig die Söhne aus der Gang, zu der meine Familie gehört, töten. Ein andauerndes Ping-Pong-Massaker. Ich wuchs in South L.A. auf, musste mich um meine alleinstehende Mutter und meine drei jüngeren Brüder kümmern. Und obendrauf war ich auch noch schwul und hatte mein Coming-out mit 14. Ich bin sowas wie der Fels, das Oberhaupt in der Familie. Es gab einen Moment während der Dreharbeiten, an dem ich einfach zusammenbrach und anfing, zu heulen. Es war eine Mischung aus Aufregung darüber, wie weit ich es in meinem Leben gebracht habe, und gleichzeitig: Ich würde nicht hier sein, würde nicht ich selbst sein, wenn es all diese Leute nicht gegeben hätte, die mir alles beigebracht haben – das Tätowieren, die Verantwortung für mich selbst, all diese Dinge. Mein Vater versucht gerade, wieder Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich sage nur: „Nee, Alter.“ Er hat mich einst verstoßen. Und dieses Video ist auch eine Möglichkeit für mich, ihm einfach „Fuck You!“ hinterherzurufen. Ich habe ihm natürlich den Clip geschickt.
@LIL: Nachdem ich Shawns Geschichte gehört hatte, war mir klar, dass sie einfach erzählt werden muss. Es war zwar zu spät, sie direkt im Video aufzugreifen, aber immerhin ist er quasi der Star des Clips. Und als wir das Video veröffentlichten, war das unsere Art, zu sagen: Diese Kultur existiert, diese Menschen sind real, einer der Typen im Clip hat genau das am eigenen Leib erlebt. Die Geschichte des Videos ist vielschichtiger, als man auf den ersten Blick denken würde. Und der erste Blick allein zeigt allein schon eine ganze Menge.
Shawn: Ich möchte die Wahrnehmung der Leute davon verändern, was oder wie ein schwuler Mann zu sein hat. Das Video kam da genau zur rechten Zeit.
Interview: Joey Hansom
Übersetzung: Jan Noll