Musik

Trübe Tage, Riesenratten und der Schlüssel dazu: Interview mit Masha Qrella

15. Apr. 2016

Mit zwei Videoclips vermochte die international geschätzte Berliner Musikerin schon seit Mitte März die Vorfreude auf ihr fünftes Soloalbum zu schüren. Nun ist „Keys“ erschienen und es spiegelt textlich wie musikalisch wider, wo sich Masha Qrella gerade befindet: Sehr bei sich und an einem Punkt ihrer Karriere, den man tatsächlich beim Hören der neuen Stücke begreift. Selten wurde Heimatlosigkeit in der eigenen Stadt (mit einer gelungenen Referenz an Mascha Kalékos Gedicht „Blasse Tage“), radikale Veränderungsprozesse und nicht zuletzt Momente von Verliebtheit so gekonnt auf den Punkt gebracht wie in diesen elf Dream-Pop-Songs, die in kompletter Eigenregie entstanden sind. SIEGESSÄULE-Autor Markus von Schwerin hat Masha Qrella in einem Café im Berliner Wedding getroffen, wo sie seit zwei Jahren lebt

Masha, zu Beginn des Interviews würde ich gerne über ein Stück sprechen, das mir besonders aufgefallen ist: „Girl“ greift zum einen die Dramatik britischer Electropop-Hits aus den 80er Jahren auf und repräsentiert für mich mit am stärksten die tanzbare Seite des Albums. Zum anderen scheint es aber auch eine Art besonderer Liebesbrief zu sein ...
Absolut. Es ist ein Liebesbrief, wie die meisten Songs auf meinem neuen Album. Ich glaube tatsächlich, dass Liebe eine große Antriebsfeder in der Kunst sein kann. In erster Linie sind meine Songs aber Zustandsbeschreibungen. „Girl“ ist ein Song über das Vermissen, Aufgewühltsein und über die Angst, etwas Schönes, das man gerade erfahren hat, wieder zu verlieren. „Why“ beschreibt den Zustand, in den man fällt, wenn man sich abgelehnt fühlt, „Pale Days“ Verlorenheit und Einsamkeit – Gefühle, die Berlin als Stadt in mir heute auslösen. Auch „DJ“ ist ein Liebesbrief. An meinen langjährigen Freund Hannes Lehmann, unsere gemeinsame Zeit in Berlin.

Berlin spielt offenbar immer wieder eine wichtige Rolle auf „Keys“. Gerade wenn ich an dein aktuelles Video zum Titelstück denke, wo Du als Riesenratte in der Berliner U-Bahn sitzt ...
Ja, die Ratte! Sie ist all das, was ich bin und jeder andere in dieser Stadt sein kann. Wenn ich das Video heute anschaue, das ja nur aus einer Fahrt besteht, wo die Ratte zwischen zwei Jungs sitzt, die den Fremdkörper gar nicht wahrnehmen, denke ich: Das ist Berlin. In Berlin kannst du ja mit einem Esel U-Bahn fahren und niemand schaut dich dabei schräg an...

Heißt das, dass du die Ratte bist und du dich für das Video zu „Keys“ einfach in die U-Bahn gesetzt hast?
Genau. Und die beiden Jungs neben mir waren normale Fahrgäste. Der eine scheint unglücklich verliebt zu sein, nimmt mich als Ratte gar nicht wahr und schaut immer verzweifelt in sein Handy. Der andere Junge schaut ab und zu herüber, grinst kurz und hat dann einfach akzeptiert, dass da eine Riesenratte neben ihm sitzt. Und der Song „Keys“ ist die Stimme im Kopf der Ratte. Masken haben ja eine irre Wirkung: bereits winzige Bewegungen können beim Betrachter schon so viel auslösen. Das ist eine perfekte Projektionsfläche. In diesem Sinne ist diese Ratte ein queerer Charakter.

Wie meinst du das?
Ich glaube, dass meine Kunst, meine Musik und mein Auftreten schon immer queer waren und ich das mit meinem neuen Album und den Videos irgendwie auf den Punkt bringen konnte. Eben, dass man als Künstler Rollenzuschreibungen im Sinne von Gender eigentlich nicht braucht. Es braucht eine Offenheit, die fern davon stattfindet. Es ist sogar eine regelrechte Bedingung, um sich künstlerisch immer wieder neu finden zu können. Auch das steckt für mich in dieser Ratte: die Perspektive wechseln zu können. Das ist oft eine Voraussetzung für kreative Prozesse. Zum Beispiel schreibe ich gerade den Soundtrack für den neuen Film von Diana Näcke „Wenn Allah nicht will, dann stirbst du nicht“. Da schlüpfe ich beim Komponieren sozusagen innerlich in die Perspektive eines 100 Kilo schweren Türken ein, der so lange Wimpern hat wie Bambi. Engin fährt durch fünf osteuropäische Länder auf der Suche nach seinen Wurzeln, quasi den Geistern seiner Kindheit.

Das erinnert mich an einige Zeilen des Eröffnungsstücks auf Deine neuen Album: „Every face another child / Every child another man / Every man another woman / Things look different when (...)“
Genau, das ist „Ticket To My Heart“ ...

Claudia Rorarirus

Zu deinem Record-Release-Konzert im Ballhaus Berlin haben dazu einige Mitglieder der deutsch-englischen Peformance-Gruppe Gob Squad eine Choreographie getanzt ...
Ja, das sind auch die vier, die sich hinter den Schlüssellöchern auf dem Albumcover verbergen.Bei ihrem Stück „Kitchen“ hatte ich mal ein Schlüsselerlebnis: Während der Vorstellung hat die Performerin Sharon Smith eine junge Zuschauerin gebeten, mit ihr hinter einer Leinwand ein Gespräch zu führen. Das wurde – für alle im Zuschauerraum sichtbar – auf eine Leinwand projiziert. Ich war total fasziniert von der Offenheit des Mädchens und wie privat dieses Gespräch plötzlich wurde. Irgendwann hat Sharon sie gefragt, ob sie sich vorstellen kann, sie zu küssen.

Und haben sie sich geküsst?
Ja. Das Tolle daran war nicht unbedingt der Kuss, sondern die Spannung, die aufgebaut wurde. Am Ende, als sie sich dann küssten, wusste man plötzlich nicht mehr, ob das für die Performerin und das Mädchen ein Spiel war oder Wirklichkeit. In meinem nächsten Videoclip, zu „Ticket To My Heart“, tanzt Sharon Smith auch mit. Darin wird eine Szene aus François Ozons Film „Tropfen auf heiße Steine“ zitiert.

Die Szene, in dem die vier Protagonisten plötzlich zu den ersten Zeilen von Tony Holidays „Tanze Samba mit mir“ -  „Oh-hooouaaah – du bist so heiß´wie ein Vulkan“-  zu tanzen beginnen?
Genau! Die Regisseurin Diana Näcke und ich haben „Ticket To My Heart“ darunter gelegt. Und als ich gemerkt habe, was plötzlich mit dem Text und dem Song passiert, habe ich sofort an Gob Squad gedacht. Gob Squad hinterfragen Identität nahezu in jedem ihrer Stücke. Und wer wen tanzt, ist dann einfach egal. Das ist eine Projektionsfläche, ähnlich wie bei der Ratte.

Und wie hat es sich als Riesenratte angefühlt?
Ganz ehrlich? Geschützt, aufregend, als hätte ich in diesem Moment meine perfekte Identität gefunden. Meine zwei Mitmusiker und ich spielen auch den Eröffnungssong auf unseren Konzerten mit diesen Masken. Ich trete als Ratte auf, Robert Kretzschmar als Kamel und Hannes Lehmann als Löwe. Nach einem Konzert in der Philharmonie in Stettin hat mir eine junge Frau erzählt, wie faszinierend sie es gefunden hat, dass unsere Persönlichkeiten so gut mit den Masken korrespondieren. Und dabei kennt sie uns doch gar nicht. Ich habe mich darüber total gefreut!

Masha Qrella: Keys (Morr Music/Indigo), jetzt erhältlich
Masha Qrella live: 27.05., Berlin, Volksbühne/Roter Salon
www.mashaqrella.de

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