Queerer Journalismus in postsowjetischen Ländern

Das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung (n-ost), das mehr als 250 Journalist*innen und Medienaktivist*innen in Europa verbindet, hat im Februar ein neues Projekt ins Leben gerufen: die Medien-Plattform UNIT soll den Fokus auf das Leben von LGBTI in postsowjetischen Ländern legen.
Der usbekische Journalist Ali Feruz und der deutsche Projektmanager Andreas Schmiedecker bauen von Berlin aus ein berufliches Netzwerk in Osteuropa und Zentralasien auf, um die Journalist*innen dort zu ermutigen, über die Lage von queeren Menschen zu berichten
Ali und Andreas, warum wurde UNIT ins Leben gerufen? Andreas: Viele Journalist*innen leisten in Osteuropa und Zentralasien schon großartige Arbeit und sind sehr interessiert daran, mehr zum Thema LGBTI zu publizieren. Gleichzeitig leiden sie unter Isolation, fehlendem Austausch und mangelnden Publikationsmöglichkeiten. Hier versuchen wir mit UNIT in die Bresche zu springen, Fortbildung und Vernetzung zu ermöglichen und Kontakt zu Medien herzustellen. LGBTI-Themen sind dort in vielen Gesellschaftsbereichen absolutes Tabu. Das fördert Vorurteile, Missverständnisse, Unverständnis und ist letztendlich der Nährboden für Gewalt. Deshalb ist es ganz entscheidend, dass diese Themen von lokalen Journalist*innen mit einem Gespür für die jeweiligen Besonderheiten der Region und der Medienlandschaften aufgegriffen werden.
Ali, du selbst hast erlebt, was es bedeutet, wenn man nicht frei journalistisch arbeiten kann. Wie bist du nach Deutschland gekommen? Ali: Ich wurde in Usbekistan geboren und bin in Russland aufgewachsen. Dort habe ich fünf Jahre für die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta gearbeitet und über soziale Themen berichtet. Es gab Probleme mit meinen Artikeln. Ich lebte damals schon offen schwul und war auch LGBTI-Aktivist. Ich hatte eine usbekische Staatsbürgerschaft, und der russische Staat hat versucht, mich nach Usbekistan abzuschieben. Im Sommer 2017 kam ich ins Gefängnis für Migrant*innen. Es lief ein Solidaritätskampagne für meine Freilassung. Nach einem halben Jahr wurde ich entlassen und bin dann nach Deutschland gekommen.
Wie ist die Lage für LGBTI-Menschen, die in diesen sehr verschiedenen Ländern leben? Andreas: Sie ist sehr unterschiedlich, auch gibt es große Differenzen, abhängig vor allem vom Wohnort und der sozialen Stellung. Grundsätzlich gilt, dass marginalisierte Gruppen in autoritären Systemen, wie sie zum Beispiel in Zentralasien verbreitet sind, besonders verwundbar sind – auf ihre Kosten wird Politik gemacht. Es gibt vergleichbare Entwicklungen zum Beispiel in Bezug auf die Gesetzgebung – das Verbot der „Propaganda nicht traditioneller Beziehungen“, das in Russland in Kraft ist und für dessen Einführung in verschiedenen zentralasiatischen Parlamenten stark lobbyiert wurde. Zudem sind viele Menschen in sich überschneidende Strukturen eingebunden: Familie, religiöse Systeme, staatliche Systeme, in denen persönliche Freiheiten vor allem in Bezug auf sexuelle Orientierung und Genderidentität sehr stark eingeschränkt sind. Soziale Ächtung und Probleme im öffentlichen Leben gibt es in allen Ländern, in denen wir aktiv sind. Inwieweit LGBTI-Themen öffentlich diskutiert werden können, ist unterschiedlich, das reicht von durchaus offenen Debatten, wie zum Beispiel in Armenien, der Ukraine, Georgien oder auch teilweise Kirgisistan, zur völligen Tabuisierung, wie in Usbekistan und Turkmenistan, wo gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen nach wie vor kriminalisiert sind. In einem so großen Land wie Russland ist zum Beispiel die Situation sehr komplex und differenziert und reicht von mehr oder weniger offener Gewalt und Lebensgefahr für LGBTI, wie im Nordkaukasus, zu vergleichsweise ungestörten Lebensmöglichkeiten in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg.
Wie helft ihr Journalist*innen ganz konkret vor Ort? Andreas: Dies geschieht einerseits durch Förderung der Qualifikation, Weiterbildungen, andererseits auch durch Vernetzung, besseres Verstehen der lokalen Medienlage und gezielte Förderung vielversprechender Publikationen. LGBTI-Themen können im Mainstream dieser Länder oft nicht existieren und brauchen zusätzliche Unterstützung. Man kann zum Beispiel angefeindet werden, wenn man in einer Redaktion eine LGBTI-Recherche vorschlägt.
Ali: Ich arbeite zum Beispiel mit usbekischen Kolleg*innen, die vor Ort keine Möglichkeiten haben, über queere Themen zu schreiben. Ich vermittle sie an Medien im Ausland, wie die BBC etwa, die auf Usbekisch publizieren, und helfe ihnen, ihre Texte anonym zu veröffentlichen. Nur ich weiß, wie sie wirklich heißen.
Habt ihr ein Beispiel für eine Geschichte, bei der ihr gerade jemanden unterstützt? Ali: Vor Kurzem hat mir eine armenische Journalistin einen Artikel zum Thema Transgender geschickt und ich habe ihn redigiert. Sie hatte ein bisschen Angst, etwas darüber zu schreiben, weil es so viele verschiedene Terminologien dazu gibt und es ihre erste Reportage zu dem Thema war. Wir haben vorher diskutiert, und ich habe ihr ein paar Vorschläge gemacht, wie man besser darüber sprechen kann. Generell muss man sagen: Unsere Journalist*innen sind in Ländern ansässig, in denen Russisch gesprochen und geschrieben wird. Die russischen Terminologien haben aber in jedem Land eine jeweils leicht andere Bedeutung. Wir diskutieren also darüber, wie verschiedene Wörter zum Beispiel im armenischen Russisch verwendet werden können, weil sie dort eine andere Bedeutung haben.
Wie kann man die Rechtslage in diesen Ländern mit journalistischer Arbeit verbessern? Andreas: Der freie Zugang zu Informationen ist ein absolutes Grundrecht und die Basis für jede Diskussion von Menschenrechten. Nur wenn über etwas gesprochen werden kann, gibt es eine Möglichkeit, die rechtliche Situation überhaupt einzuschätzen. Vor Gewalt und Diskriminierung steht meist das Absprechen des Menschseins, das bewusste Unsichtbarmachen, auch in rechtlicher Hinsicht. Deshalb ist journalistische Arbeit die Voraussetzung für die Änderung der rechtlichen Situation. Allerdings machen wir kein politisches Lobbying oder versuchen, die Gesetzeslagen dort der „europäischen“ anzupassen. Wir versuchen auch nicht, irgendwelche Werte oder Gesellschaftsvorstellungen zu exportieren. Jede Gesellschaft und jedes Land müssen einen eigenen Weg finden, das Zusammenleben für alle zu organisieren. Für die dazu notwendige Sichtbarkeit wirklich aller ist ein starker Journalismus von entscheidender Bedeutung. Wir bringen nicht die Revolution in die postsowjetischen Länder. Aber eine Veränderung beginnt damit, was gesagt werden kann und worüber berichtet werden kann.
Ihr wollt die Sichtbarkeit von LGBTI-Menschen aus Osteuropa und Zentralasien nicht nur vor Ort, sondern auch in deutschen und internationalen Medien verbessern ... Ja, das ist ein ganz zentrales Ziel unseres Projekts. Dabei ist uns aber sehr wichtig, dass nicht wir „über“ andere Menschen schreiben, sondern Journalist*innen vor Ort eine Publikationsmöglichkeit hier im „Westen“ bieten. Unsere ersten beiden Publikationen haben zum Beispiel darauf abgezielt, das Leben von LGBTI-Personen sowie Aktivist*innen zu zeigen. Viele Menschen in Deutschland und Europa haben eine vage Ahnung, dass die Situation von LGBTI in diesen Ländern „schlecht“ ist, aber worin die Herausforderungen genau bestehen, ist oft nicht klar. Dabei gibt es auch viele Klischees. Deshalb geht es uns darum, Berichte aus erster Hand zu liefern, wo die einzelnen Personen als Menschen im Vordergrund stehen, damit man auch sieht, wie komplex jede einzelne Biografie ist. Jede Sichtbarkeit ist in diesem Sinne sehr wichtig für unser Projekt.
Interview: Milan Ziebula/age
Mehr Infos über UNIT: unit@n-ost.org