Eine starke SPD und eine in die Enge getriebene Kanzlerin – aus der kurze Traum

Kurz war der Traum: Gestern gegen frühen Abend legte die Nachrichtenlage für einen Moment nahe, dass es einen mächtigen Ruck bei der Gleichstellung geben würde: Tagesschau24 meldete die rechtliche Gleichstellung als Koalitionseinigung, RTL gab sogar an, auch das Adoptionsrecht sei in den Regierungsvertrag von SPD und CDU/CSU geschrieben.
Dazu noch eine Manuela Schwesig, die derartig rotzig und überzeugend die Mindestlohnforderung in die Kameras schleuderte, dass es für einen Moment so aussah, als gäbe die SPD das Unionsgekuschel endlich auf. Die SPD hätte die Koalition platzen lassen können. Sei es aus Angst vor der Mitgliederbefragung oder aus neu erwachtem Selbstbewusstsein. Die Vorarbeit dazu war ja schon geleistet. Die Aussagen, man denke für die Bundestagswahl 2017 über ein Zusammengehen mit der Linken nach, war auch eine klare Drohung an die Merkel-Partei. Eine SPD, die den Druck bis zum Zerbrechen auf die Koalition erhöht, eine in die Enge getriebene Kanzlerin, die die Flucht nach vorne antritt – es wäre möglich gewesen.
Man hätte Merkel einen Befreiungsschlag bei der Gleichstellung zugetraut, schon einmal hat sie das für die eigenen Reihen Undenkbare getan: Den Atomausstieg nach Fukushima verkündet. Nicht so bei den Homos – es gibt keine Exitstrategie für die Diskriminierung von Homosexuellen.
Oder soll man sich darüber freuen, dass es Absichtsformulierungen gibt? Man mag sich der Hoffnung nicht mehr hingeben – zu deutlich hat die Politik in den letzten Jahren gezeigt, dass wohlklingende Formulierungen dazu dienen, ihr Gegenteil zu erreichen. Nicht schwer vorauszusehen ist, dass Gleichstellungspolitik weiterhin nur vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe betrieben wird. Das ist nicht nur ein Komplettversagen der Politik, sondern auch ein gefährliches Spiel: Der Stammtisch wird zukünftig behaupten können, Karlsruhe habe den homosexuellen Dolchstoß verübt.
Christian Mentz
Bericht zur Demo
LSVD-Protest, gestern vor dem Willy-Brandt-Haus

27.11. – Das Willy-Brandt-Haus ist an diesem Dienstagmittag von allen Seiten belagert: TierschützerInnen haben sich an der Ecke Wilhelm- und Stresemannstraße aufgestellt, gegenüber steht eine Gruppe von ver.di und ein Dutzend MedienvertreterInnen wartet auf die führenden Köpfe von CDU/CSU und SPD. Mittendrin rund 50 Männer und Frauen, die trotz klirrender Kälte dem Demoaufruf des LSVD gefolgt sind.
LSVD-Pressesprecherin Renate Rampf warnt die Sozialdemokraten, in die gleiche Falle zu tappen, die schon die FDP ihre Glaubwürdigkeit gekostet hat, und die Menge macht klar, was sie von den bisherigen Verhandlungen hält. Sobald ein Volksvertreter, eine Politikerin auftaucht, werden Sprechchöre laut: „Lasst uns nicht hängen!“ oder „Wir haben es satt, Bürger zweiter Klasse zu sein!“. Alexander Dobrindt, Angela Merkel und Horst Seehofer – sie alle bekommen den Unmut der Protestgruppen zu hören.
„Wir lächeln, auch wenn’s kein lustiger Anlass ist”, geben sich die LSVD-Vertreter und -Vertreterinnen kämpferisch, als sie sich verfroren fürs abschließende Gruppenfoto aufstellen, und Renate Rampf bemerkt trocken: „Angela Merkel lebt selbst in zweiter Ehe – wir wollen nur eine. Das wäre schon mal ganz schön.“
Katrin Heienbrock