Küsst Indien sich Straffreiheit herbei?

Zum Jahresende entschied der oberste Gerichtshof in Indien, das erst 2009 aufgehobene Kolonialgesetz von 1861, das sogenannte Section 377, wieder in Kraft zu setzen. Ähnlich wie die einstigen Sodomie-Gesetze der USA stellt dieses Gesetz die „körperliche Vereinigungen wider Natur“ unter Strafe und ahndet sie mit Freiheitsentzug – im schlimmsten Fall lebenslänglich. Konkret heißt es im indischen Strafgesetzbuch: „Wer freiwillig sexuellen Verkehr entgegen der Ordnung der Natur mit Mann, Frau oder Tier hat, soll mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 10 Jahren bestraft sowie zu einer Strafzahlung verpflichtet werden.“
Plump gesagt ist in Indien also schon ein Blowjob strafbar. Zwar zeigt sich das Gesetz inhaltlich neutral gegenüber Gender und sexueller Orientierung, letztlich kriminalisiert es aber homosexuelle Handlungen und trifft so besonders die LSBTI-Community. Sofort wurden Proteste in der Bevölkerung laut.
Die starke Message: We don't give a damn!
Ein mutiges Zeichen mit einer unmissverständlichen Botschaft setzt nun zu Jahresbeginn das indische Männermagazin Mandate. Das aktuelle Cover ziert ein attraktives Männerpaar, das sich lasziv präsentiert und küsst. Die starke Message: „We don't give a damn!“ Angesichts der prekären Situation im Land, schwingt in dieser „Mundpropaganda“ eine gehörige Portion Wagnis mit.
„Auch wenn es womöglich 377 Wege gegeben hätte, dagegen zu demonstrieren, so entschieden wir uns, dem 378ten zu folgen. Es wäre für uns unkompliziert gewesen ein homosexuelles Paar in einer intimen Pose aufs Cover zu kriegen. Wir suchten aber die Herausforderung.“, sagt Yufraj Juneja, Redakteur bei Mandate, gegenüber siegessaeule.de. „Es war an der Zeit, dass die Nicht-LSBTI-Gemeinde sich der Sache annahm. Deshalb haben wir zwei heterosexuelle Jungs angefragt.” Scherzend fügt er hinzu: „Als wir das letzte Mal geprüft haben, ist kein Lebewesen dabei zu Schaden gekommen. Und darum geht’s ja.“ Bei den beiden Hauptdarstellern handelt es sich um Tapan Singh und Vimal Shah, zwei junge, noch weitgehend unbekannte Gesichter in der Modelwelt.
Indische Prominenz reagierte sofort auf die Veröffentlichung – durchwegs positiv waren die Reaktionen bei Twitter; das Cover und mit ihm die Botschaft wurden zigfach im sozialen Netzwerk geteilt. Auch die Verkaufszahlen seien gut, versichert Yufraj Juneja.
„Es geht um eine Milliarde Menschen, denen gesagt wird, sie seien alle Kriminelle”
Im Magazin selbst meldeten sich ebenfalls einige Persönlichkeiten zu Wort.
Wendell Rodricks, Modedesigner, stellt fest: „Was die Gesellschaft scheinbar nicht versteht, ist, dass es hier nicht allein um die LSBTI-Community geht. Es geht um eine Milliarde Menschen, denen gesagt wird, sie seien alle Kriminelle, wenn sie Sex zum Vergnügen praktizierten und nicht der Fortpflanzung wegen. Der einzige Grund, weshalb die LGBT-Gemeinde gegen Section 377 protestierte, ist, weil sie schikaniert und erpresst wurde und weil es ihr verboten war, gegen Aids zu kämpfen.“
Auch wenn Section 377 theoretisch gegen Artikel 14, 15, 19 und 21 der indischen Verfassung verstößt, in denen das Rechte auf Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit und freie Entfaltung verbrieft sind, ist fraglich, ob das Gesetz zeitnah wieder gekippt wird. Wahrscheinlicher ist leider, dass die diskriminierende Umsetzung des Gesetzes ihren Lauf nimmt. LSBTI-Organisationen fürchten eine weitere Entfremdung von LSBTI Personen und Gruppen vom indischen Mainstream, sowie eine erhebliche Einschränkung ihrer Bemühungen in der HIV/AIDS-Prävention.
Es bleibt zu hoffen, dass sich auch heterosexuelle InderInnen der Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit durch dieses Gesetz bewusst werden und den Protest weiterhin unterstützen – Mandate hat hierzu einen ersten, wichtigen Schritt getan.
Daria A. Eismann