Reportage

Weiter Druck machen! Lage für Schwule in Tschetschenien nach wie vor brisant

7. Juli 2017
Mahnwache vor dem Bundeskanzleramt im Mai, im Käfig: Florian Flitzinger ©AVAAZ

Eine „für uns beispiellose Situation“: so beschreibt eine Sprecherin des „Russian LGBT Network“, der größten überregionalen LGBTI-Organisation in Russland, was sie und ihre KollegInnen in den letzten Monaten miterlebt haben. Das regierungsunabhängige Netzwerk betreibt Lobbyarbeit für die Rechte von LGBTIs. Unter anderem bietet die Organisation auch psychologische und rechtliche Beratung per Telefon an. Im März dieses Jahres erhielt sie die ersten Anrufe und Emails von schwulen Männern aus Tschetschenien, die berichteten, in ihrer Heimatregion akut bedroht und verfolgt zu werden.

Das Netzwerk reagierte rasch: Da die Organisation selbst nie in Tschetschenien, einer autonomen Republik innerhalb der Russischen Föderation, gearbeitet hatte, wandte man sich an andere Menschenrechtsgruppen, die schon länger in der Region aktiv waren. Diese bestätigten die Berichte über eine Welle gezielter Verfolgungen bisexueller und schwuler Männer – oder jener, die dafür gehalten wurden, erzählt die Sprecherin. „Sie haben uns gesagt: Ja, das passiert wirklich.“ Anfang April veröffentlichte dann die erste Zeitung, die russische Nowaja Gaseta, einen Artikel über die Verfolgungen, der internationale Aufmerksamkeit erregte. Darin hieß es, tschetschenische Behörden gingen massiv gegen vermeintlich homosexuelle Männer vor. Von über hundert Festnahmen und mindestens drei Toten war die Rede.

Seit den ersten Berichten ist etwas Zeit vergangen. Wie hat sich die Lage entwickelt? Ende März installierte das LGBTI-Netzwerk eine eigene Hotline für den Nordkaukasus, über die Betroffene sich melden können. Bis Anfang Juni waren bereits um die hundert Hilfegesuche eingegangen, um die fünfzig Personen konnten aus der Region „evakuiert“ und in russischen Städten untergebracht werden. Das Netzwerk kümmere sich auch um medizinische, psychologische und finanzielle Unterstützung, sagt die Sprecherin, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will. „Viele hatten keine Zeit, mehr als das Nötigste mitzunehmen.“

Ende Mai erschien ein 42-seitiger Report von Human Rights Watch, der auf Interviews mit Betroffenen beruht. Tschetschenische Strafvollzugs- und Sicherheitsbehörden hätten im Frühjahr eine gezielte Kampagne gegen mutmaßlich schwule Männer geführt, heißt es in dem Report. Die Polizei habe die Männer „zusammengetrieben, geschlagen und erniedrigt, mit dem Ziel, die tschetschenische Gesellschaft von ihnen zu ,säubern‘.“ Sie seien tagelang, zum Teil wochenlang an geheimen Orten festgehalten und auch gefoltert worden.

Anfang Juni sah es so aus, als hätten die systematischen Verfolgungen durch tschetschenische Behörden ausgesetzt. Es habe ihres Wissensstandes nach keine neuen Verhaftungen mehr gegeben, berichtete Human Rights Watch noch im letzten Monat. Diese Woche veröffentlichte das russische LGBTI-Netzwerk dann ein Update: verlässlichen Berichten von Betroffenen zufolge sei es erneut zu Verhaftungen und Verfolgungen gekommen.

Momentan steht das Team des Netzwerks in Verhandlungen mit Verantwortlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in anderen Ländern. Das Ziel: eine humanitäre Aufnahme der Geflohenen zu erreichen und ihnen die Ausreise aus Russland zu ermöglichen. Denn auch dort drohe ihnen noch Gefahr, wie Tanya Lokshina, Programmdirektorin von Human Rights Watch in Moskau, im Gespräch mit SIEGESSÄULE betont. Sowohl tschetschenische Sicherheitskräfte als auch zum Teil die eigenen Angehörigen, verfolgten die Geflohenen über die Grenzen der muslimisch geprägten, teilautonomen Republik hinaus.

Feindlichkeit gegenüber LGBTIs sei in der ultrakonservativen Gesellschaft Tschetscheniens weit verbreitet, sagt Lokshina. Dies allein erkläre aber nicht die jüngste Welle von gezielten Verfolgungen mutmaßlich schwuler Männer. „Das wurde von Top-Level-Autoritäten organisiert und sanktioniert.“ So beschuldigt Human Rights Watch den Sprecher des tschetschenischen Parlamentes, Magomed Daudow, an der Verfolgungswelle persönlich beteiligt gewesen zu sein. Die tschetschenische Führung wies die Vorwürfe von sich: es gebe in Tschetschenien keine schwulen Männer, demnach könne auch keine Verfolgung stattgefunden haben.

Human Rights Watch weist schon seit Jahren immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen unter der Regierung des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow hin. Die Methoden, die sich nun gegen mutmaßlich schwule Männer richten, wende die Regierung auch gegen andere als „unerwünscht“ geltende Gruppen an, darunter KritikerInnen des Regimes, salafistische Muslime oder DrogenkonsumentInnen.

Von einem ähnlich systematischen Vorgehen gegen andere Teile der LGBTI-Community sei ihnen nichts bekannt, sagt Lokshina. Ihre Organisation wisse aber von einigen Fällen von „Ehrenmorden“ an lesbischen und bisexuellen Frauen. Auch lägen ihnen drei Berichte über trans* Personen vor, die aus Angst, Opfer von solchen „Ehrenmorden“ zu werden, aus der Region geflohen sind.

Seitens russischer Behörden hatte man die Berichte vom Frühjahr über eine Schwulenverfolgung zunächst dementiert. Inzwischen hat die russische Regierung öffentlich Aufklärung versprochen. Dies sei auf internationalen Druck zurückzuführen, meint Lokshina. Unter anderem hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Besuch in Sotschi im Mai Präsident Wladimir Putin aufgefordert, den Vorwürfen nachzugehen. „Die internationale Aufmerksamkeit hat Putin dazu gebracht, anzuerkennen, dass in Tschetschenien furchtbare Dinge passieren“, sagt auch die Sprecherin des russischen LGBTI-Netzwerkes.

Zwölf der vom Netzwerk betreuten Personen konnten bislang aus Russland in andere Länder ausreisen. Auch Berlin hat mittlerweile fünf aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgte Tschetschenen aufgenommen. In Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt, erfolgte die Aufnahme „aus dringenden humanitären Gründen" auf Grundlage des Aufenthaltsgesetzes. Wie andere EU-Staaten vergibt Deutschland solche humanitären Visa sehr selten.

Hier sei ebenfalls Druck vonnöten, sagt die Sprecherin des russischen Netzwerkes. Zivilgesellschaftliche Gruppen müssten ihre Regierungen dazu auffordern, tschetschenische Flüchtlinge aufzunehmen. „Wir brauchen Allies überall in der Welt.“

Eine der Organisationen, die mit dem Netzwerk in engem Kontakt stehen, ist der Verein für russischsprachige LGBTI in Berlin, Quarteera e.V. Quarteera arbeiten schon seit Jahren immer wieder auch mit LGBTIs aus Tschetschenien, die von erlebten Diskriminierungen und Drohungen berichten. „Dieses Ausmaß und die Einbindung staatlicher Strukturen in die Verfolgung“, das sei für ihn aber etwas Neues gewesen, sagt Vorstandsvorsitzender Wanja Kilber. Die Zusammenarbeit mit den russischen LGBTI-Organisationen hält er in dieser Situation für sehr wichtig: „Sie sagen uns, wo wir weiter hinarbeiten können.“

In Berlin gab es, neben Demos unter anderem vor der russischen Botschaft, Anfang Mai eine dreitägige Mahnwache vor dem Kanzleramt. Ein symbolischer Käfig wurde aufgestellt und AktivistInnen hielten Plakate hoch. „Sag Putin, dass er die Ermordung von schwulen Männern in Tschetschenien beenden soll!“, stand darauf – als Appell an Merkel vor ihrer geplanten Russlandreise. „Ich dachte, wir müssen diese Chance nutzen“, sagt Florian Flitzinger vom Kollektiv „We Mind!“, der die Mahnwache veranstaltet hat. „Wir hatten den richtigen Zeitpunkt und die richtige Öffentlichkeit.“ Solche Aktionen, die Forderungen direkt an Verantwortliche richten, können etwas bringen, ist auch Wanja Kilber überzeugt. Wer helfen möchte, könne dies außerdem mit Spenden an das russische LGBTI-Netzwerk tun.

Für die Unterstützung und die internationale Medienberichterstattung seien sie sehr dankbar, sagt die Sprecherin des Netzwerkes. „Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss aufgeklärt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“ Gerade jetzt, vor dem Hintergrund der jüngsten Berichte über erneute Verfolgungen, sei es unabdingbar, „nicht locker zu lassen."

Franziska Schulteß

Weitere Infos und Spenden unter:
quarteera.de
lgbtnet.org
hrw.org

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