Barrierefreiheit auf CSDs: Eine Frage der Haltung

Die Sichtbarkeit und Teilhabe von behinderten Menschen scheitert oft am Budget von Events – so auch beinahe beim Berliner CSD. Behinderte Körper sollten kein Spielball sein – Inklusion zu priorisieren ist keine Serviceleistung. SIEGESSÄULE-Autorin Patricia Fritze kommentiert
„Nie wieder still“ lautet das diesjährige Motto des Berliner CSD. Und tatsächlich: Berlins Straßen sind bunt, laut, voll. Doch wer genauer hinschaut, merkt schnell, wer in dieser Sichtbarkeit fehlt – und warum. Rollstuhlnutzer*innen, reizempfindliche Menschen, hörbehinderte Besucher*innen: Sie sind kaum dort zu sehen, wo Sichtbarkeit gefeiert wird. Nicht, weil sie nicht existieren, sondern weil sie strukturell übersehen werden. Konsequente Barrierefreiheit fehlt selten zufällig – sie fehlt systematisch. Und mit ihr jene, für die Zugänge keine Nettigkeit sind, sondern Voraussetzung für Sichtbarkeit und Widerstand. Wird gespart, dann fast immer zuerst an ihnen.
Barrierefreiheit fällt nicht weg, weil sie zu teuer ist, sondern weil sie verhandelbar scheint.
Barrierefreiheit ist keine Serviceleistung. Sie ist Voraussetzung für Teilhabe und Sicherheit. Wer glaubt, Pride-Veranstaltungen seien per se inklusiv, verwechselt Symbolik mit Struktur. Wie fragil diese Haltung ist, zeigt der diesjährige Berliner CSD. Wegen fehlender Sponsorengelder in Höhe von 200.000 Euro standen ausgerechnet Angebote auf der Kippe, die diese Sichtbarkeit ermöglichen. Barrierefreiheit fällt nicht weg, weil sie zu teuer ist, sondern weil sie verhandelbar scheint.
Laut dem CSD e. V. musste dort gespart werden, wo es noch möglich war: „Barrierearme Maßnahmen bewerten wir als überaus wichtig für die Teilhabe und Sichtbarkeit aller Teilnehmenden des Berliner CSD. Für die Durchführung der Demonstration sind diese aber nicht zwingend erforderlich – anders als etwa Infrastruktur, Sanitär, Personal und Sicherheit“, so Vorstandsmitglied Thomas Hoffmann auf Nachfrage von SIEGESSÄULE.
Vielfalt statt Privilegien feiern
Nachdem die fehlenden Sponsorengelder bekannt wurden, startete der CSD-Verein einen Spendenaufruf. Nach einer Welle der Solidarität sollen in diesem Jahr dank der erfolgreichen Spendenkampagne alle Maßnahmen zur Reduzierung von Barrieren wieder wie 2024 umgesetzt werden. Wenn die gesellschaftlich Vulnerabelsten als Erste außen vor bleiben, wird nicht Vielfalt geschützt, sondern Privilegien. Eine Rollstuhlfahrerin beschreibt ihre Erfahrungen beim CSD so: In der Menschenmenge werde sie oft wortwörtlich übersehen. Betrunkene fielen auf sie und lachten dabei. Sie sagt: „Pride fühlt sich dadurch nicht wie ein Safe Space an, sondern wie ein Ort, an dem ich wachsam sein muss.“
„Pride fühlt sich dadurch nicht wie ein Safe Space an, sondern wie ein Ort, an dem ich wachsam sein muss.“
Während auf großen CSDs Behinderung meist unsichtbar bleibt, setzt die Behindert-und-verrückt-feiern-Pride-Parade ein anderes Zeichen. Seit über zehn Jahren versammelt sich hier, was im Mainstream oft ausgeblendet wird: Menschen mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen, mit Psychiatrieerfahrungen oder chronischen Erkrankungen. Queer, neurodivergent, politisiert – und laut. Dieser Pride ist keine Parade mit inklusiver Note. Er ist ein widerständiges Kollektivereignis. Das diesjährige Motto: „Feiern bis zum Auffallen“.
Ein Teilnehmender bringt es gegenüber SIEGESSÄULE auf den Punkt: Man feiere nicht, weil man eingeladen wurde – sondern weil man sich den Raum selbst nimmt. Dass diese Form von Pride mit weniger Budget möglich ist, liege auch an der Struktur, so das Orga-Team zu SIEGESSÄULE: „Kleine Demos sind was ganz anderes als so riesige Dinger. Wir haben keine teure Technik, keinen Bühnenbetrieb, weniger Auflagen – und organisieren vieles solidarisch.“ Sie betonen: „Wir wollen uns nicht gegen den großen CSD ausspielen lassen – darum kann es nicht gehen.“
Sichtbarkeit muss neu verhandelt werden – gerade jetzt, da CSDs unter Druck geraten.
Der Behindert-und-verrückt-feiern-Pride zeigt: Barrierefreiheit ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern der Haltung. Sichtbarkeit muss neu verhandelt werden – gerade jetzt, da CSDs unter Druck geraten. In Ungarn wurde der Pride verboten, in Brandenburg stören rechte Gruppen gezielt CSD-Demos und queere Veranstaltungen. Hier ist Barrierefreiheit kein Extra, sondern ein Prüfstein für Glaubwürdigkeit.
Behindert und verrückt feiern Pride-Parade
Samstag, 05.07., 15:00
Treffpunkt Hasenheide, nahe Hermannplatz
Ende: Kottbusser Tor
pride-parade.de
Folge uns auf Instagram
#Barrierefreiheit#Behindert und verrückt feiern#Behinderung#CSD#Inklusion#Kommentar#Pride#Privilegien#Sichtbarkeit#Teilhabe