Bi+-Aktivistin Robyn Ochs: Seit 49 Jahren offen bi – „immer noch keine Phase“

Robyn Ochs ist eine der bekanntesten Aktivist*innen, die sich für die Bi+-Community einsetzt. Sie ist Speakerin, Autorin und gründete in den 80ern Bi-Initiativen in den USA, die bis heute bestehen. Zum Bisexual Visibility Month sprachen wir mit ihr über bisexuelle Bewegungsgeschichte und aktuelle Herausforderungen in den USA und darüber hinaus
Robyn, du bist bekannt für ein Zitat von 2005, auf das sich selbst in Deutschland Bi+-Initiativen beziehen: „Ich bezeichne mich als bisexuell, weil ich anerkenne, dass ich mich zu Menschen mehr als eines Geschlechts hinzugezogen fühlen kann, sei es sexuell und/oder romantisch; nicht unbedingt zur gleichen Zeit, auf die gleiche Art und Weise oder in der gleichen Intensität.“ Wie geht es dir all die Jahre später damit? Es ist wichtig zu erwähnen, dass ich diese Definition nicht in Isolation entwickelt habe. Ich bin Speakerin und ein Vorteil davon ist, dass ich viel Feedback bekomme. Diese Definition konnte über einen längeren Zeitraum reifen, in dem ich sie immer wieder etwas angepasst habe. Was mir besonders gut gefällt ist, dass sie sich immer noch frisch und relevant anfühlt. Sie funktioniert auch 20 Jahre später noch für mich – und anscheinend auch für viele andere Menschen.
Du hast natürlich viel mehr gemacht als dieses Zitat zu schreiben. Du hast zum Beispiel in den 80er-Jahren das Bisexual Women's Network in Boston gegründet und das Bisexual Resource Center. Was hat dich damals motiviert? Ich habe mich kurz vor meinem 18. Geburtstag als bisexuell geoutet, und die Dinge waren damals sehr anders. Es gab kein Internet und wenig Möglichkeiten, Informationen, Vorbilder oder eine Community zu finden. Ich dachte, bisexuelle Menschen seien extrem selten. Als ich feststellte, dass ich bisexuell bin, hatte ich große Angst. Ich war mir sicher, dass mich niemand mehr lieben würde, wenn sie es wüssten. Dann zog ich nach Boston, Massachusetts. In Cambridge, einem Vorort von Boston, gab es ein Frauenzentrum, das jeden Mittwochabend eine Veranstaltung mit wechselnden Themen hatte. Zufällig war das Thema in der ersten Woche, in der ich dort war, Bisexualität. Dort traf ich neun andere Frauen, die sich als bisexuell identifizierten. So wurde mir schnell klar, dass es definitiv bisexuelle Menschen auf der Welt gab. (lacht) Nach dem Treffen fragte eine der Frauen, ob jemand eine dauerhafte Gruppe gründen wolle. Und so wurden wir zu „The BiVocals”.
„Nach dem Treffen fragte eine der Frauen, ob jemand eine dauerhafte Gruppe gründen wolle. Und so wurden wir zu ‚The BiVocals‘.“
Wir trafen uns 10 Jahre lang jeden Monat. Einige der Frauen hatten Erfahrung mit der feministischen und schwul-lesbischen Bewegung. Ich glaube, das war der Funke, der uns inspirierte, mehr zu machen: 1983 gründeten wir das Boston Bisexual Women's Network. Wir starteten eine Publikation namens Bi Women, die heute Bi Women Quarterly heißt. Wir sind jetzt im 43. Veröffentlichungsjahr.
Wow, das ist sogar älter als SIEGESSÄULE. Wir sind letztes Jahr 40 geworden … Bi-Aktivismus ist eben kein so neues Phänomen. (lacht) Rückblickend finde ich interessant, dass zu einer ähnlichen Zeit auch Bi-Gruppen in New York, San Francisco, Chicago, London oder Amsterdam entstanden. Wir haben uns engagiert ohne von einander zu wissen. Anscheinend teilten wir das Gefühl, dass Bisexualität gerade Momentum hatte.
Welche Faktoren haben das beeinflusst? In den 80ern und 90ern entwickelte sich aus der Lesben- und Schwulenbewegung die LGBT-Bewegung und es entstanden immer mehr Zusammenschlüsse spezifischerer Interessensgruppen, etwa für Schwarze Lesben, behinderte LGBT – und so auch bisexuelle Menschen.
In Deutschland war auch die Aidskrise ein Faktor: Der Verein BiNe – Bisexuelles Netzwerk e. V. formierte sich aus einer Selbsthilfegruppe der Deutschen Aidshilfe heraus, in der sich vor allem bisexuelle Männer über HIV-Prävention und Aids-Stigma austauschten. Wie war das in den USA? HIV und Aids waren sowohl ein Grund, aktiv zu werden als auch ein Hindernis. Insbesondere bisexuelle Männer waren die Sündenböcke in der Mehrheitsgesellschaft, die bösen Überträger von HIV, sozusagen von „schuldigen“ schwulen Männern auf „unschuldige“ heterosexuelle Frauen. Es war einfach sehr schwer damals, ein queerer Mann zu sein. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie es gewesen sein muss. In der lesbischen Community wurden bisexuelle Frauen manchmal auf ähnliche Weise dargestellt: Frauen bekamen Aids von „bösen, widerlichen“ Männern und übertrugen es auf „reine“ Lesben. In vielerlei Hinsicht hat die Aidskrise die Bewegung um Jahre zurückgeworfen, selbst wenn sie für einige Aktivist*innen eine Motivation war, sich zu engagieren.
„Bisexuelle Männer waren die Sündenböcke in der Mehrheitsgesellschaft, die bösen Überträger von HIV, von ‚schuldigen‘ schwulen Männern auf ‚unschuldige‘ heterosexuelle Frauen.“
Bisexualität wird oft als „trendy“ gesehen, selten als eine Community mit einer eigenen Bewegungsgeschichte. Wie kann das Bewusstsein dafür gestärkt werden? Wenn andere unsere Geschichte vergessen, müssen wir sie eben selbst erzählen. Eines der Dinge, die ich an der globalen Bi+-Bewegung liebe, ist, dass sie aus so vielen Einzelpersonen besteht, die mit wenig Anerkennung hart daran arbeiten, etwas zu verändern. Die Menschen von Bi+ Nederland sind beeindruckend, auch Berlin, Hamburg und Köln haben seit langer Zeit aktive Bi+-Organisationen. Ich wünsche mir, dass die Arbeit, die diese Menschen über Jahrzehnte machen, mehr Anerkennung bekommt. Dass die Medien, sowohl Mainstream als auch LGBTIQ*-Medien, über Bi+-Menschen verschiedener Generationen berichten. Ich möchte, dass Bi+-Personen auf jedem queeren Panel vertreten sind. Wir sollten im Raum sein, wenn Entscheidungen getroffen und Gespräche geführt werden, die uns betreffen, weil wir die größte Gruppe innerhalb von LGBTIQ* sind.
Auf der Homepage des Stonewall National Monument wurde zuerst das „T“ und alle Erwähnungen von trans Personen gelöscht, später still und leise auch das „B“. Manchmal tauchte es wieder auf, dann war es wieder weg ... Was denkst du darüber? Es erinnert mich an dieses Zitat, „als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschaftler holten ...“ und so weiter. Nach und nach wird eine queere Gruppe nach der anderen unsichtbar gemacht. Aber es geht nicht nur um Stonewall-Gedenken: Große Kürzungen treffen die LGBTIQ*-Forschung, im Bildungsbereich herrscht Angst, Lehrkräfte fürchten Sanktionen, Diversity-Zentren werden geschlossen, Mittel für Campus-Programme gekürzt. Meine eigenen Auftritte als Speakerin haben sich auf etwa ein Viertel reduziert. Während Europa mit rechten Rückschlägen kämpft, erleben wir in den USA derzeit eine besonders extreme Phase. Aber ein Backlash ist nicht das Ende der Diskussion – er macht sie nur deutlich schwieriger. Menschen in Europa können uns unterstützen, indem sie einen Realitätscheck liefern und kommentieren, was in den USA passiert. Manchmal hilft es schon zu zeigen, dass die Welt auch anders aussehen kann.
„Menschen in Europa können uns unterstützen, indem sie einen Realitätscheck liefern und kommentieren, was in den USA passiert.“
Ich habe mich öfter gefragt, warum sich etliche schwul-lesbische Strukturen aus den 80ern professionalisiert haben während Bi+-Initiativen rein ehrenamtliche Graswurzel-Organisationen geblieben sind. Hast du eine Idee, womit das zusammenhängt? In den USA hat meines Wissens noch keine Bi+-Organisation jemals staatliche Förderung erhalten. Auch private Stiftungen berücksichtigen Bi+-Projekte nicht, weil sie glauben, dass „LGBTIQ*“ alle einschließt – manchmal stimmt das, oft aber nicht. Viele Bi+-Personen fühlen sich in queeren Räumen nicht willkommen, aus Angst vor Ablehnung. Betrachtet man Daten zu Gesundheitsdisparitäten oder Minderheitenstress, zeigt sich: Trans* Personen haben die größten Herausforderungen. Weniger bekannt ist, dass Bi+-Personen die zweitgrößten Schwierigkeiten haben. Trotzdem werden wir kaum gefördert. Der Bi+-Community fehlt grundlegende Unterstützung und Anerkennung für ihre Lebensumstände. Das sieht außerhalb der USA leider nicht viel besser aus. Immerhin sind aktuell einige Aktivist*innen dabei, eine Bi+-Organisation über eine EU-Förderung aufzubauen.

Was würdest du jungen Bi+-Personen raten, die gerade erst anfangen, sich damit auseinanderzusetzen? Ich möchte, dass sie wissen: Ja, es gibt viele negative Stereotype über bi+ Personen. Aber diese entstehen nicht durch Bisexuelle selbst, sondern durch die begrenzten Denkmuster anderer. Uns wird beigebracht, die Welt in Dualismen zu sehen, obwohl in Wirklichkeit kaum etwas eindeutig binär ist. Bisexuell zu sein macht niemanden schlechter – aber auch nicht besser. Stolz kann man nicht auf die Orientierung selbst sein, wohl aber auf den Mut, offen zu ihr zu stehen. Denn es erfordert viel Kraft und Integrität, eine Identität sichtbar zu machen, die von Vorurteilen und Stigmata belastet ist.
„Ich bin seit fast 30 Jahren mit meiner Frau zusammen. Bis heute fällt es mir leichter zu sagen: ‚Ich bin mit einer Frau verheiratet‘, als offen zu sagen: ‚Ich bin bisexuell‘.“
Wird es leichter mit der Zeit? Ich bin seit fast 30 Jahren mit meiner Frau zusammen, seit 21 Jahren verheiratet. Bis heute fällt es mir leichter zu sagen: „Ich bin mit einer Frau verheiratet“, als offen zu sagen: „Ich bin bisexuell“. Auf beides bin ich stolz. Die Reaktionen auf ein Coming-out als bisexuell machen es aber schwerer, es auszusprechen. Trotzdem tue ich es. Ich bewundere Menschen, die den Mut haben, sich öffentlich so zu zeigen, wie sie sind. Eine Sache, die bei internalisierter Biphobie sehr hilft, ist Community: Menschen zu finden, die dir ähnlich sind und dich so akzeptieren, wie du bist.
Sehen dich jüngere Menschen als Vorbild? Einige junge Leute haben zu mir gesagt: „Sie sind die erste ältere Person, die ich treffe, die offen bi ist.“ Sie erzählen dann, wie gut es ihnen tut, eine ältere bi+ Person zu sehen, die glücklich ist, geliebt wird, ein erfülltes Leben führt und beruflich erfolgreich ist. Das brauchen sie: ein Gegenbild zu dem Klischee, Bisexualität sei nur eine Modeerscheinung. Ich selbst identifiziere mich seit 49 Jahren als bi – allein durch mein Leben widerlege ich das Vorurteil, es sei nur eine Phase.
Homepage:
robynochs.com
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