Bundestagswahl: Wie geht taktisches Wählen?

Vor dem Ergebnis der Bundestagswahl am 23. Februar fürchten sich viele. Politikfrust, Resignation oder Ohnmacht sind aber keine Gründe, nicht zu wählen. Es gibt viele gute Gründe – vielleicht mit zusammengebissenen Zähnen –, auch taktisch sein Kreuz zu machen
Die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel bezeichnet in einem an Absurdität nicht zu übertreffenden Interview mit Elon Musk auf seiner Plattform X Adolf Hitler als Kommunisten, um sich selbst von Vorwürfen des Nationalsozialismus abzugrenzen. Beim Parteitag spricht sie stolz von „Remigration”, von ihrem irritierenden Hass auf Gender Studies und schreit dabei so aggressiv rum, dass nicht mal ein Tagesticket einer Well-nessoase diese Verspannungen lösen könnte. Gleichzeitig verteilt die AfD in Karlsruhe als Wahlkampfaktion „Abschiebetickets” in Briefkästen migrantischer Menschen. Genau diese Partei könnte laut Umfragen die zweitstärkste Partei in Deutschland werden. Was einer dystopischen Satire ähnelt, ist unsere Realität kurz vor den Bundestagswahlen.
Ein Wahlsieg der AfD wäre besonders für Queers, BIPoCs und andere Marginalisierte in Deutschland eine Katastrophe. Wie lässt sich das verhindern? Wählen gehen, lautet die Antwort. Doch beim Blick auf den Wahlzettel macht sich ein Ohnmachtsgefühl breit. In der Regel gibt man der Partei, die am besten zu den eigenen politischen Überzeugungen passt, seine Stimme. Aber wenn sich das Schlimmste am Horizont anbahnt, kann die kleine Lieblingspartei nicht immer etwas ausrichten, während die in den Umfragen höher platzierte Alternative dagegen schon eher die AfD schwächen kann. Das nennt man taktisches Wählen.
Das kleinere Übel
Dabei unterscheidet man zwischen Erst- und Zweitstimme. Mit dem ersten Kreuz kann taktisches Wählen dabei helfen, eine Partei, die es voraussichtlich nicht in den Bundestag schafft, durch Direktmandate in den Bundestag zu wählen. So war es bei der letzten Bundestagswahl bei der Linken der Fall. Das zweite Kreuz entscheidet über die Sitzverteilung im Bundestag. Dieses wird häufig als „wichtiger“ betrachtet, da sie das Kräfteverhältnis der Parteien bestimmt. Wer taktisch wählt, entscheidet sich für das kleinere Übel. Wie unbefriedigend dies auch sein mag – es kann retten. Taktisches Wählen kann ein letztes Mittel sein, ein bröckelndes System nicht komplett zerfallen zu lassen.
Je weniger Prozente kleine Parteien bei Wahlen bekommen, desto mehr velieren sie auch an staatlichen finanziellen Mitteln.
Doch kritisch betrachtet geht diese Wahlstrategie auf Kosten der kleinen Parteien, die es sowieso schon schwer haben, die nötige 5-Prozent-Hürde für den Bundestag zu überschreiten. Und je weniger Prozente kleine Parteien bei Wahlen bekommen, desto mehr velieren sie auch an staatlichen finanziellen Mitteln. Langfristig führt taktisches Wählen also zu verfestigten Machtmonopolen großer Parteien und reduziert die Vielfalt in der Parteienlandschaft, eigentlich ja das, was eine Demokratie ausmachen sollte. Um dies zu verhindern, sich aber nicht mit etablierten Parteien zufriedenzugeben, gäbe es noch die dritte Variante des taktischen Wählens: eine ungültige Wahl. Sie ist ein bewusster, sichtbarer Protest, der das demokratische System anerkennt und die Chance für kleinere Parteien erhöht, in den Bundestag zu ziehen oder zumindest Gelder zu bekommen.
Zweifellos ist es ein Armutszeugnis, dass momentan fast 20 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland eine Partei wählen würden, die schneller abschieben wird, als man Rassismus buchstabieren kann. Und dann aus taktischen Gründen und nicht aus Überzeugung zu wählen ist schon eine bittere Pille. Allein mit dieser Zweitwahl sollten wir uns nicht zufriedengeben, sondern Druck machen auf eben diese Parteien, uns besser zu vertreten. Im Grunde ist für marginalisierte Menschen in Deutschland jede Wahl eine taktische, in einem Meer voller unwählbarer Parteien.
Im Grunde ist für marginalisierte Menschen in Deutschland jede Wahl eine taktische, in einem Meer voller unwählbarer Parteien.
Die Parteien, die sich mit „Brandmauern“ gegen rechts darstellen, rutschen ähnlich weit nach rechts wie diejenigen, die sie scheinbar bekämpfen. Julia Klöckner entsetzte mit einem Post, in dem sie schreibt, man müsse nicht die AfD wählen, weil es „für das, was ihr wollt“, die CDU gebe. Der Post wurde schnell wieder gelöscht. Über den Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, der letzte Woche der AfD den Steigbügel gehalten hat und dessen Migrationspolitik genauso gut im AfD-Wahlprogramm stehen könnte, muss nichts mehr gesagt werden.
Nein, wir haben auch das „Im großen Stil abschieben”-Zitat von Olaf Scholz auf dem Spiegel-Cover nicht vergessen. Und die Grünen sind ein Fähnchen im Wind auf der Suche nach Stimmen und dieser weht deutlich nach rechts. Sie können sich feministische Außenpolitik so groß auf die Stirn schreiben, wie sie wollen; das macht sie nicht feministischer.
Und man muss nicht Politikwissenschaft studiert haben, um zu wissen, dass die Kulturkürzungen in Berlin, angekurbelt von CDU und SPD, und die damit einhergehende Zensur von Kunst an dunkle Zeiten in der Geschichte erinnern. Wo bleibt die Hoffnung auf eine funktionierende Demokratie, wenn es die ach so demokratischen Parteien sind, welche der AfD den braunen Teppich auslegen?
Der Kampf endet nicht am 23. Februar
Bei all der Wut über die genannten Parteien ist die FDP fast in Vergessenheit geraten – was viel über ihre politische Zukunft im Bundestag aussagt. Sind die vielen ehemaligen Erstwähler*innen, die die FDP gewählt haben, mittlerweile Millionäre geworden? Nein? Es war zu erwarten.
Demokratische Parteien brauchen feministische und gerechte Wahlprogramme mit klaren Standpunkten zur Wirtschaft wie zu Mietpreisen, zu solidarischer und tatsächlich feministischer Außenpolitik wie zum Nahostkonflikt und auch endlich mal eine fundierte Ostpolitik. Es gibt so viel mehr an politischen Positionen, als nur „nicht die AfD“ zu sein.
Aus Frust nicht wählen zu gehen spielt rechten Parteien wie der AfD in die Karten.
Die derzeitige politische Lage sieht nicht rosig aus, aber aus Frust nicht wählen zu gehen spielt rechten Parteien wie der AfD in die Karten. Wenn wir nicht gegen rechts wählen, riskieren wir die Sicherheit vieler Menschen in Deutschland. Wir müssen die Chance ergreifen, überhaupt noch ein Mitstimmrecht zu haben. Der erste Schritt ist es, unsere Demokratie zu schützen. Nach dem 23. Februar endet der Kampf aber nicht. Wir müssen weiter kritisieren und für Solidarität und Gerechtigkeit einstehen. Wenn wir dies tun, kommen wir, hoffentlich, an einen Punkt, an dem taktisches Wählen gar nicht mehr diskutiert werden muss.
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