Eurovison Song Contest 2021 in Rotterdam

Frauenpower und „toxische Fröhlichkeit“: Der ESC ist zurück!

23. Mai 2021 Sascha Osmialowski
Bild: EBU / Andres Putting
Die Rockband Måneskin sind die Gewinner des Eurovision Song Contest 2021

Schwere Zeiten für alteingesessene ESC-Fans. Erst nahmen sie uns das Orchester, dann die Backgroundsänger. Und nun gewinnt zum ersten Mal ein waschechter Rocksong, der so gar nicht ironisch ist. Die Frage, ob das den ESC vielleicht besser macht – und was sonst noch so los war auf der Showbühne – kommentiert Sascha Osmialowski

Zum ersten Mal seit elf Jahren sitze ich da, wo ich beim ESC eigentlich gar nicht hingehöre. Zu Hause auf meiner Couch. Mit Bockwurst und Kartoffelsalat und der behördlich zugelassenen Anzahl an Freund*innen. Dankbar, dass das Gastgeberland Niederlande es geschafft hat, mir ein Stück queerer Lebensqualität zurückzugeben: Eurovision, das musikalische Zuckerfest der Homosexuellen. Eine professionelle Show mit Musik, Moderatoren und Publikum das mal nicht aus Pappaufstellern besteht und einer trans Person als Moderatorin (Nikkie Tutorials), die ihre Kolleg*innen in allen Belangen in den Schatten stellt. Yes Queen! Ich hab Bock. Sowas von.

Los geht’s mit Zypern und Teufelspop. Elena Tsagrinou sieht aus wie Tamta 2019 („Replay“), tanzt wie Eleni 2018 („Fuego“) und singt wie Lady Gaga. Noch dazu ist die Choreo von Zara Larsson geklaut. Schäm dich, kleiner Inselstaat. Dafür bietet Israel: Dancepop, Discogeigen, Haardiadem. Das prickelt lustig im Gehörgang. Das Trickkleid hätte die Sängerin Eden Alene nicht gebraucht, aber hey: Dafür ist der ESC ja da.

Starke Frauen

Huch! Rap aus Russland? Früher wurden die russischen Beiträge in der Halle ausgebuht aus Protest gegen die Menschenrechtslage von LGBTIQ* im Land. Diesmal rappt Manizha im Overall mit Goldturban für mehr Frauenpower und im Backdrop-Chor sieht man auch Dragqueens. Tut sich da etwas in Russland? Solche Acts braucht das Land. Ich meine: Jedes Land.

Bild: EBU / Thomas Hanses
Manizha mit „Russian Woman" für Russland


Noch massenkompatibler (Achtung Wortwitz) kommt Destiny aus Malta reingeglitzert und wuchtbrummt sich in mein Popherz. Starke Frau, starke Stimme, starke Nummer. Wird das heute die Nacht der Powerfrauen?

Okay, Serbien schickt dagegen die übliche sexistische Popnummer mit vier Kilo Extensions und Sängerinnen, deren Gesichter scheinbar beim gleichen Chirurgen gekauft wurden. Der Schweizer Gjon’s Tears hingegen gilt als einer der Topfavoriten. „Tout L’univers“ ist klassischer ESC-Balladen-Stoff. Ob daraus auch sein Blouson geschneidert wurde? Trägt etwas auf, ist trotzdem gut. Island ist der Favorit der Herzen. Hätte der ESC im letzten Jahr stattgefunden, hätten Daði og Gagnamagnið haushoch gewonnen. „10 Years“, ihr Lied für den ESC 2021, landet zwar nicht auf meiner Playlist, dafür ist dieser Auftritt die beste Inszenierung des Abends. Ich will so einen Pulli. So geht lustig. So und nicht anders.

Jendrik frohlockt sich Richtung Punktedesaster

Das hätte sich der NDR bei seiner Inszenierung zum deutschen Beitrag mal hinter die Löffel schreiben sollen. Gute Laune-Flummi Jendrik (Musicaldarsteller, schwul) scheint echt ein dufter Typ zu sein. Aber im Song passiert ab Sekunde eins alles, was mich nervt: Tröten, Flöten, Pfeifen, Steppen, Sabbeln. Da hilft es nichts, dass seine Ukulele glitzert. Heiter frohlockt er sich Richtung Punktedesaster. Nicht ganz unerwartet. Jendrik hatte selbst schon im Vorfeld angekündigt, er wäre auch mit dem letzten Platz zufrieden. Ich misstraue systematisch allen dauergutgelaunten Menschen. Gibt es sowas wie „toxische Fröhlichkeit“? Beängstigend.

Bild: EBU / Thomas Hanses
Jendrik mit „I don't feel hate“ für Deutschland

Die finnische Linkin-Park Kopie schaut sich so weg, Nu-Punk kommt halt kaum vor in meinem Playlist-Portfolio, ich bin eine handelsübliche Poplette. Aus Bulgarien kommt Schluffipop von einem Bilie Eilish-Double. Sitzt im Pyjama auf einem Stein und singt über’s Älterwerden. So hab’ ich die vergangen 12 Monate gelebt, fehlt nur die Tüte Chips. Das will ich nicht sehen. Ganz anders Litauen. Das ist knallgelb, das ist postmodern, das ist Electropop wie ich ihn liebe. Außerdem mag ich den Tänzer. Hüftgoldig! Auch die Ukraine flötet sich mit der Foktronica-Band Go_A in meinen Neocortex. „Shum“ heißt Lärm. Das hab’ ich gebraucht nach über einem Jahr ohne Clubs. Können die Bitte auf der nächsten „Gegen“ im KitKat auftreten?

Bild: EBU / Andres Putting
Go_A mit „SCHUM“ für die Ukraine

„Voilá!“ Frankreich bringt ein klassisches Chanson. Etwas düster, aber nie war ein klassisches Chanson so fresh. Bravo! Was der Teufel für Zypern, ist ein Engel für Norwegen. Was für ein herrlicher Blödsinn. Immerhin Ganzkörper-Glitzer, aber das wird TIX nicht retten.

Bild: EBU / Thomas Hanses
TIX mit „Fallen Angel“ für Norwegen

Androgyner Glam Rock

Nun also die Rockband Måneskin aus Italien im androgynen 70er Glam Rock-Look. Die sind nicht erst seit ihrem Sieg beim diesjährigen Sanremo-Festival in ihrer Heimat echte Superstars. Mit „Zitti e buoni“ rufen sie ihre Generation dazu auf, unkonventionell und aufgeflippt zu sein. Solides Handwerk. Danach geht der Pop von Tusse jedenfalls irgendwie unter. Vor Conchitas Sieg 2014 hätte die Diversity-Nummer für Aufsehen gesorgt, heute sind wir schon weiter.

Zum Abschluss dann noch mal hochgepimpter Popalarm. San Marino hat angeblich viel Geld von Klebebildchenhersteller Panini bekommen, und so sieht der Auftritt von Musicalsängerin Senhit auch aus. Obendrein haben sie ihr den US Rapper Flo Rida spendiert, aber den kann man angeblich für alles buchen. Bunt aber zu drüber. Puhh, anstrengend.

Bei den Jurys liegen die klassischen Balladen aus der Schweiz und Frankreich vorne, Malta und Italien in Lauerstellung. Doch das Publikums-Voting katapultiert die italienischen Rocker an die Spitze. Zugegeben, niemand aus meiner erweiterten ESC-Homo-Bubble hatte Italien persönlich vorne. Ganz im Gegensatz zu der queeren Fachpresse vor Ort übrigens. Auch die Buchmacher*innen sahen die Italiener schon lange vorn.

ESC im Hier und Jetzt angekommen

Die Qualität und Vielfalt der diesjährigen Beiträge zeigt: Der ESC ist im Hier und Jetzt angekommen, ohne dass wir queeren Hardcore-Fans auf kiloweiße Strass, Windmaschinen-Action oder Trickkleider verzichten müssen. Geschweige denn auf inhaltsschwangeren Betroffenheitspop (Niederlande), anstrengende Powerballaden (Spanien), musikalischen Quatsch (Deutschland) oder inszenatorische Vollkatastrophen (UK). Alle mit 0 Punkten beim Televoting abgestraft. Gab’s auch noch nie.

Fazit: Der ESC ist zurück und präsentiert sich als Wettbewerb stärker denn je! Extrem jung, extrem divers und extrem spannend. Neue Zeiten brechen an. Måneskin treffen den Zeitgeist. Queer, kinky, rebellisch und jung. Sind doch gute Aussichten für die Zukunft. Grazie Italia. Jetzt wünsche ich nur noch dem NDR eine Frischzellenkur, wenn nicht sogar eine Runderneuerung. Macht Platz für die Jungen, die haben’s drauf!

Eines noch im Nachgang: Natürlich hat er nicht!
Unmittelbar nach dem Sieg der italienischen Rockcombo ging Twitter steil. Aufmerksame Zuschauer meinten, Leadsänger Damiano David hätte sich im Green Room eine Substanz durch die Nase gezogen. Etwa Koks? Live? Das wurde auf der Sieger-PresseKonferenz natürlich vehement dementiert. Natürlich! Schade eigentlich. Was soll man sonst machen wenn man die ganze Zeit nur rumsitzt und auf sein Handy tippt ... in der größten Musikshow der Welt.

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