Joan Nestle: Die Butch-Femme-Pionierin
Zum ersten mal werden die Texte der US-Amerikanerin und Mitbegründerin der legendären Lesbian Herstory Archives Joan Nestle auf Deutsch veröffentlicht. Und das von dem Berliner Verlag etece buch, das von einem ehrenamtlichen, vorwiegend queeren Kollektiv betrieben wird. SIEGESSÄULE sprach mit Nadin Wildt von etece über die Veröffentlichung
Euer Verlagskollektiv hat das Buchkonzept zu Joan Nestles „Begehren und Widerstand“ mit Lara Ledwa vom Spinnboden-Archiv als Herausgeberin entwickelt. Wie ist die Idee zum Buch entstanden? Lara Ledwa ist auf uns zugekommen mit der Idee, was zu Joan Nestle zu machen. Der Spinnboden stand durch Joans Arbeit in den New Yorker Lesbian Herstory Archives schon lange mit ihr in Kontakt. Ich hab Lara dann vorgeschlagen, einen Sammelband zu machen mit ausgewählten Texten. Und wir haben auch gleich entschieden, dass wir alles neu übersetzen wollen.
Es ist das erste Mal, dass ein Reader auf Deutsch zu Joan Nestle erscheint, richtig? Genau, es sind noch nie mehr als nur einzelne Texte von Joan auf Deutsch erschienen. Es gab in den 80er- und 90er-Jahren Texte von ihr in feministischen oder lesbischen Zeitungen. Sabine Fuchs hat im Querverlag zwei Bücher rausgegeben, einmal zu Femmes und einmal zur Femme-Butch-Kultur, für eines davon hat Joan das Vorwort geschrieben. Als Femme hab ich selbst sie dort vor über 20 Jahren das erste Mal gelesen. Entsprechend verbinde ich Joan Nestle auch total mit dem Thema Femme-Butch.
Wie ist der Titel zum Buch entstanden? Was bedeutet „Begehren und Widerstand“ für Joan Nestle als lesbische jüdische Fem*? Den Titel haben wir uns ausgedacht, weil wir ihre vielfältigen Themen auf den Punkt bringen wollten. Das Buch hat viele intime Storys, die sie auch Memoirs nennt. Die ganzen Sex-Storys hat sie sich nicht ausgedacht, sondern selbst erlebt. Ihre politischen Essays sind wiederum manchmal theoretischer, wie etwa zum Thema Sexarbeit, bei dem sie einen größeren historischen Bogen schlägt. Dann gibt es persönliche Geschichten aus ihrer Kindheit und von ihrer Mutter. Und diese thematische Breite von Sex und Begehren über politischen Aktivismus, Themen wie Krankheit und Alter und Verlust einzufangen – etwa, dass sie mehrmals Krebs hatte und auch Freunde durch Aids verloren hat –, das war uns wichtig. Wir wollten auch aufpassen, dass der Titel nicht zu akademisch klingt.
Sind die Texte denn akademisch? Gar nicht.
Mit ihren Butch-Femme-Geschichten hat Joan gewissermaßen zur Gender-Offenheit beigetragen und war schon damals sehr progressiv. Damit ist sie angeeckt und hat kontroverse Debatten in der Community ausgelöst. Bis heute ist das so, oder? Ich hab das Gefühl, dass neue Generationen immer wieder ähnliche Debatten führen, nur ein bisschen anders. Die Butch-Femme-Kultur wird oft in die Vergangenheit verlagert, anstatt sie als ein Spiel mit Gender und Begehren und Macht zu sehen, das auch heute noch topaktuell ist. Und was bis heute immer wieder abgewertet wird.
Wie war der Übersetzungsprozess? Wir hatten fünf verschiedene Personen, die übersetzt haben, mit verschiedenen Perspektiven aus verschiedenen Generationen. Wir haben die Übersetzenden zusammengebracht, auch mit Joan, und da gab’s viel Austausch, was sie untereinander gelernt haben. Das große Thema ist Community und Zusammenhalt. Darum geht’s uns ja auch im Verlag, und es war logisch, dass wir den Übersetzungsprozess so gestalten.
„Das große Thema ist Community und Zusammenhalt. Darum geht’s uns ja auch im Verlag, und es war logisch, dass wir den Übersetzungsprozess so gestalten.“
Warum ist es wichtig, dass Leute das Buch lesen? Wer sich da ran traut, wer da Lust drauf hat, findet auch Themen und Anschlüsse, weil es so viel gibt. Nestle bringt alles zusammen. Für mich persönlich ist ganz besonders toll, dass sie es schafft, klarzumachen, dass Sex immer mehr ist als Sex. Letztens erst wurde sie gefragt, wie sie all diese Ausgrenzungen und Konflikte innerhalb der Community durchgehalten hat. „I was nourished by touch“, hat sie gesagt. Sie hatte keine Familie, aber Genoss*innenschaft und „touch“. Ich glaube, dass unser Buch vielleicht andere auch dazu bringt, Dinge aufzuschreiben, Geschichten, die sonst verloren gehen. Und wir suchen doch alle Vorbilder. Joan Nestle hat mit 40 erst angefangen, Geschichten aufzuschreiben und Communitys und Generationen miteinander zu verbinden. Das ist es, das brauchen wir!
Joan Nestle: „Begehren und Widerstand“
(a. d. Amerik. v. Anna Kuntze, Bettina Wind, Desz Debreceni, Johanna Davids u. Sabine Fuchs)
hrsg. v. Lara Ledwa, etece buch
300 Seiten, 25 Euro
etece.de
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