Kommentar

Ist Syrien bereit, die tief verwurzelte Homophobie zu überwinden?

27. Jan. 2025 Khaled Alesmael, Übersetzung: Marlene Kienberger
Bild: James Anastasi
Khaled Alesmael journalistische Arbeit wurde mit internationalen Preisen ausgezeichnet, 2018 veröffentlichte er seinen Debütroman „Selamlik“

Der syrische Autor Khaled Alesmael floh vor dem Militärdienst nach Schweden, wo er die Entwicklungen in seiner früheren Heimat noch heute verfolgt. Er wundert sich, dass Politiker*innen zwar davon sprechen, Minderheiten in Syrien zu schützen, aber niemand dabei die LGBTIQ*-Community erwähnt

Ich werfe selten einen Blick in meine Bücher, nachdem sie veröffentlicht wurden. Nach dem Sturz von Assads Regime las ich jedoch erneut die erste Passage meines Romans „Selamlik“ (Albino Verlag, 2020). Sie handelt von dem Tag im Jahr 2000, an dem Baschar alAssads Vater starb und sich mein Protagonist Furat in seinen Mitbewohner Ali verliebte, der den Alawiten angehört, derselben Glaubensgemeinschaft wie die Assad-Familie. Während ich lese, tauchen Erinnerungen aus meiner Zeit in Aleppo vor 24 Jahren auf: Syrien ohne Präsident, das Schweigen, die Angst, die Unruhe. Und dennoch verliebten sich zwei junge Männer unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften. Sie teilten ein Bett und den Traum von einer Heimat ohne Artikel 520, der gleichgeschlechtliche Beziehungen verbietet. Auch im Jahr 2024 ist der Artikel leider noch in Kraft, laut dem „Handlungen gegen die natürliche Ordnung“ mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden.

Notlage queerer Personen in Syrien

Die Abgründe in Syriens jüngster Geschichte, besonders in Gebieten, die von Extremisten kontrolliert wurden, sind gut dokumentiert. Die Welt sah mit Entsetzen zu, wie LGBTIQ*-Personen von Dächern gestoßen wurden. Interessiert sich die internationale Gemeinschaft für die Notlage queerer Personen in Syrien? Ahmed al-Shaara, Führer der HTS, sprach im CNN-Interview von einem Syrien, das Minderheiten akzeptiert. Doch weder er noch der Journalist erwähnten die LGBTIQ*-Community. Wer wird ihr Sicherheit garantieren? Wird eine neue Regierung, ob Übergangsregierung oder eine andere, das Strafgesetz abschaffen, das Generationen von Syrer*innen ins Gefängnis brachte? Werden queere Geflüchtete zurückkehren, um die Freiheit zu fordern, für die sie einst ihr Leben riskierten, oder werden ihre Hoffnungen zerschlagen? Die LGBTIQ*-Community ist mit einer entsetzlichen Realität konfrontiert, die sie zum Schweigen zwingt. Wie viele Personen verweigerten die Wehrpflicht nicht aufgrund ihrer politischen Einstellung, sondern wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität? Das Assad-Regime hat sämtliche Spuren dieser Geschichten verwischt, indem es keine Akten zu homosexuellen, nicht binären oder trans Häftlingen anlegte.

Bei den queeren Personen, die inhaftiert waren und die ich für mein Forschungsprojekt getroffen habe, zeigt sich ein Muster: Das Regime schrieb ihre Geschichten um.
Bild: Canva / Ahmed akacha
Ahmed al-Shaara ist der Führer der HTS, die im Dezember 2024 den Sturz des Assad-Regimes erreichte

Bei den queeren Personen, die inhaftiert waren und die ich für mein Forschungsprojekt getroffen habe, zeigt sich ein klares Muster: Das Regime schrieb ihre Geschichten um. Anstatt ihre wahre Identität anzuerkennen, wurden sie als Dieb*innen oder Drogenabhängige gelistet. Unter Androhung, sie zu outen, wurden sie gezwungen, Lügen zu unterschreiben; die Scham als altbewährte Waffe der Behörde.

Dieses historische Moment eröffnet Syrer*innen die Chance, sich mit ihren Vorurteilen auseinanderzusetzen. Die Frage ist nicht nur, ob Artikel 520 aufgehoben wird, sondern ob die syrische Gesellschaft bereit ist, ihre tief verwurzelte Homophobie zu überwinden. Das neue Syrien muss sich diesen Fragen stellen. Staat und Zivilgesellschaft müssen zusammenarbeiten, um ein Bewusstsein zu schaffen, Bildung hinsichtlich Gender zu fördern und das System der Unterdrückung abzubauen. Echte Freiheit wird es erst geben, wenn alle Syrer*innen – ungeachtet ihrer Identität – in Würde und Sicherheit leben können und das Recht haben, sie selbst zu sein.

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