Neue Archivleitung im Schwulen Museum: „Archive sind Orte der Macht“

Auch das Schwule Museum ist von den radikalen Sparmaßnahmen in Berlin betroffen und kämpft um Digitalisierung und darum, Überlieferungslücken zu schließen. Vor einem halben Jahr hat Julia Hartung die Archiv- und Sammlungsleitung übernommen – SIEGESSÄULE traf sie zum Gespräch
Im Archiv des Schwulen Museums (SMU) stehen die Zeichen auf Alarm. Denn die Sparmaßnahmen des Berliner Senats stellen eine Bedrohung des langfristigen Fortbestehens des Archivs dar. „Die Idee eines Archivs ist, dass man auch in 400 Jahren auf die Dinge zurückgreifen kann, die wir heute archivieren, um so Geschichte zu bewahren“, erklärt Julia Hartung beim Treffen mit SIEGESSÄULE. „Die aktuelle Berliner Kulturpolitik ist skandalös und nicht nachhaltig!“
Sie führt aus, dass während der Pandemie die Digitalisierung der Bestände finanziell angestoßen wurde, nun aber der Rotstift angesetzt wird. Personalwegfall und Überlieferungsverluste sind zu befürchten. Die digitale Langzeitarchivierung scheint torpediert durch die Kurzsichtigkeit der Politik, bei der es offenbar an Verständnis mangelt, wie Digitalisierungsstrategien funktionieren. Hartungs Antritt im SMU stand und steht also unter „suboptimalen“ Voraussetzungen, wie sie selbst sagt. Doch sie lässt sich davon nicht entmutigen. Im Gegenteil: Bei unserem Treffen wird schnell deutlich, wie sehr sie für ihre Arbeit brennt und wie begeistert sie von den sehr besonderen Archivschätzen des SMU ist. Es zählt zu den größten Archiven queerer Bewegungsgeschichte weltweit und ist gut vernetzt mit anderen „Archiven von unten“.
Zunehmend greifen auch renommierte Museen auf die Archivalien und Kunstwerke zurück, so sind derzeit Leihgaben zu sehen im Jüdischen Museum Berlin und Lotte-Laserstein-Werke in der Bundeskunsthalle Bonn. Das erhöht die Sichtbarkeit dieser Schätze außerhalb der Community und rückt das SMU mehr ins Rampenlicht.
Archiv-Arbeit als politische Praxis
Hartung, die zuvor am Bertolt-Brecht-Archiv tätig war, versteht ihre Arbeit entsprechend auch als politische Praxis, Archive als „Orte der Macht“, wie sie es formuliert: „Was in die Geschichte eingeht, ist ein umkämpftes Feld. Und das Archiv des SMU ist selbst ein erkämpfter Ort.“ Zugleich verweist sie kritisch auf Überlieferungslücken im SMU und fragt, wo zum Beispiel die Geschichten von schwulen türkischen Immigranten sind. Privatpersonen möchte sie daher ermutigen, auf das Archiv zuzugehen und scherzt: „Ihr habt eine Dildo-Sammlung? Bringt sie uns!“
„Was in die Geschichte eingeht, ist ein umkämpftes Feld. Und das Archiv des SMU ist selbst ein erkämpfter Ort.“
Die Nachfrage von Nutzer*innen der Sammlung wächst laut Hartung enorm: „Es kommen Studierende, Wissenschaftler*innen, TV-Teams und Künstler*innen zu uns. Von der Justizakte zum Paragraf 175 bis zur Federboa kann man hier alles finden.“ Sie verweist auf eine Besonderheit: „Wenn man in anderen Archivdatenbanken beispielsweise nach ‚lesbisch‘ sucht, werden kaum oder keine Treffer angezeigt, weil solche Begriffe als Schlagworte zur Objektzuordnung gar nicht angelegt werden.“ Dass mit solchen Vorgehen vergangene queere Lebensrealitäten unsichtbar gemacht werden, verdeutlicht die Bedeutung der SMU-Archivarbeit. Denn dort ist eine solche Verschlagwortung eine Selbstverständlichkeit. Die umfängliche Arbeit im SMU (auch dem Archiv) ist nur mit dem Engagement von Ehrenamtlichen möglich.

„Ehrenamtliche dürfen nicht die Lückenbüßer*innen werden, weil der Senat uns jetzt die Gelder streicht!“
Doch mahnt Hartung: „Ehrenamtliche dürfen nicht die Lückenbüßer*innen werden, weil der Senat uns jetzt die Gelder streicht!“ Erkämpfte Freiräume drohen verloren zu gehen, wenn von politischen Kräften wie dem neuen Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Wolfram Weimer (parteilos, aber CDU-nah), konservative Verengungen befürchtet werden müssen. Umso mehr versteht Hartung das SMU-Archiv mit all seinem „Schmuddel“ als erhaltenswerten sexpositiven Raum und Ausdruck des Stolzes der verschiedenen queeren Bewegungen.
Für die Zukunft wünscht sie sich, eine bessere Nutzbarkeit der Bestände über digitale Zugänge zu schaffen (trotz Einsparungen bei der IT-Stelle) sowie Überlieferungslücken von bisher unterrepräsentierten Gruppen wie BIPoC, trans* und inter* Personen zu schließen. Lässt sich nur hoffen, dass diese Wünsche tatsächlich in Erfüllung gehen – und in 400 Jahren mehr erhalten sein wird, als der Abdruck der jetzigen Rotstifte.
Archiv und Lesesaal
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Die Nutzung der Bibliothek und des Archivs ist ohne vorherige Anmeldung möglich
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