Neue Leitlinie zur Behandlung von inter* Menschen

Eine neue medizinische Leitlinie zur Behandlung intergeschlechtlicher Menschen wurde veröffentlicht. Die Leitlinie fordert mehr Aufklärung, weniger Pathologisierung und bessere Langzeitbetreuung, doch echte Autonomie bleibt aus
Kürzlich wurde die aktuelle Leitlinie für medizinische Behandlung von inter* Menschen veröffentlicht. Darin steht auf über 100 Seiten was Ärzt*innen behandeln sollen und damit auch, was Kassen zahlen, festgelegt von der zuständigen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF). Einige Operationen an Kindern bleiben empfohlen, wie der TransInterQueer e. V. (TrIQ) an einem Entwurf im Mai kritisierte, aber es wird explizit mehr Selbstbestimmung ermöglicht.
Es sollen keine Entscheidungen getroffen werden, bevor die Eltern und Kinder die Lage in mehreren Gesprächen erfasst haben.
Die vielleicht wichtigste Empfehlung: Es sollen keine Entscheidungen getroffen werden, bevor die Eltern und Kinder die Lage in mehreren Gesprächen erfasst haben. Dabei sollen Behandelnde Peer-Beratung empfehlen, darauf hinweisen, dass Geschlecht sich nicht vorhersagen lässt und Einordnungen als Störung, Krankheit oder binäres Geschlecht vermeiden. Teile davon waren in der vorherigen Fassung enthalten, oft als Zusatz von Inter-Verbänden, jetzt steht es klar als Regel da.
Ob Operation an Kindern nötig ist, darf seit 2021 nur ein Gericht auf Antrag entscheiden, mit Rat von Spezialist*innen aus Ethik und Medizin, an dem eine inter Person beteiligt werden kann. Das bleibt bis zum 48. Lebensjahr in einer Akte; die AMWF empfiehlt auch Register für Operationen, Komplikationen und Langzeitergebnisse. Nur Qualifizierte sollen operieren und mit Kompetenzzentren arbeiten, die es neben der Charité an mehreren Uni-Kliniken in Deutschland gibt. Die TrIQ-Broschüre für Mediziner*innen merkte 2020 an, dass viele gerade dort Traumatisches erlebten.
Keine pauschale Ablehnung von OPs bei Jugendlichen
Komplett von Operationen abraten kann die Leitlinie nicht: Sie spricht sich für OPs und Hormone nach Wunsch von Jugendlichen aus, ähnlich wie die Vorgaben zu trans Jugend im März. Allerdings wird hier von einer „typisch männlichen“ und „typisch weiblichen“ Pubertät gesprochen, und eine psychiatrische Begleitung wird nicht empfohlen. Letztere regeln schon Gesetz und ärztliche Begleitung ab Diagnose. Die Leitlinie rät auch zur Erweiterung der Harnröhre bei Einjährigen, wenn sonst oft Infekte zu erwarten sind, aber von lang praktizierter Vaginoplastik rät sie ausdrücklich ab, bevor Kinder mitentscheiden können.
Eine weitere häufige OP, Klitorisreduktion bei adrenogenitalem Syndrom (AGS), „kann diskutiert werden“, nachdem die AGS-Eltern und Patienteninitiative das in der letzten Leitlinie forderten. Anhand zitierter Studien, die drei bis 30 mal häufigere Geschlechterdysphorie feststellen, als in der Restbevölkerung, behauptet die Leitlinie auch hohe Übereinstimmung mit weiblicher Identität. An der Studie, die über 90 Prozent Zufriedenheit mit OPs im Kindesalter belegen soll, nahmen 21 Personen teil; bei einer Befragung von 221 Personen fällt der Anteil an Befürwortung auf unter 70 Prozent.
Bei vielen Körperteilen steht aber Abwarten an erster Stelle, OPs an letzter. Außerdem wurde die Häufigkeit von Tumoren bei inter Menschen neu evaluiert: Bösartige sind offenbar seltener als angenommen, sodass in den meisten Fällen nur jährliches Screening ab Ende der Pubertät empfohlen wird.
Auch zum Thema Schwangerschaft empfiehlt das Dokument, neben Hinweis auf das Einfrieren von Keimzellen, dass Patient*innen nach Beratung über Untersuchungen und weitere Schritte entscheiden. Anders als bei Abtreibung ist für die Beratung keine staatliche Stelle zuständig, aber ob die Praxis feministischen Ansprüchen genügt ist fraglich. Das Konservieren von Eierstöcken bei Turner-Syndrom (TS) gilt noch als experimentell, da der Nutzen dieser Methode im Vergleich zum Einfrieren von Eizellen unklar ist. Zu deutsch: Kassen übernehmen dafür keine Kosten.
Der medizinisch geprägte Begriff „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ und deren Klassifikation werden weiterhin verwendet. Das gilt manchen als pathologisierend: So würden Menschen in Diagnosen eingeteilt und ihr Recht auf selbstbestimmtes Leben davon abhängig. Besonders ungünstig für die, die nicht ins Schema passen: Ohne Indikation müssen Kassen die Kosten nicht tragen und Praxen mit Inter-Schwerpunkt sind rar. In der Leitlinie steht, dass mehr Forschung zu selteneren Varianten nötig wäre.
Dennoch steht in diesem Dokument, dass Geschlecht nicht chirurgisch veränderbar ist und dass die Medizin weniger Angleichung an die zwei binären Geschlechter verlangt. Wie das dann in der Praxis aussieht und ob weiterhin Kompetenzzentren, Gerichte und Eltern über Kinderhoden bestimmen dürfen, ist mit Wissenschaft schwer zu regeln, und, dass lediglich geraten wird, inter Menschen einzubeziehen, ist von körperlicher Selbstbestimmung weit entfernt. Die Anfrage zur Umsetzung an der Charité blieb bisher unbeantwortet. Eine ausführliche Stellungnahme von TrIQ soll in den kommenden Wochen erscheinen.
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