Phänomen „Heartstopper“: Queere Utopie oder seichter Eskapismus?
Am 3. Oktober startet bei Netflix die dritte Staffel der Erfolgsserie „Heartstopper“. Sie wurde von LGBTIQ*-Nachrichtenportalen neben „Sex Education“ und „Young Royals“ schon zur „Heiligen Dreifaltigkeit“ queerer Repräsentation im Mainstream erhoben. SIEGESSÄULE-Redakteur Kevin Clarke hat mit queeren Menschen aus Berlin gesprochen und beleuchtet, welche Bedeutung der Serienerfolg für die Community hat
Zuerst hat mich – natürlich – meine 17-jährige Nichte auf „Heartstopper“ aufmerksam gemacht. Das war 2019. Sie hatte sich gerade den ersten Band der Graphic-Novel-Reihe gekauft, weil sie und ihre Freundinnen die Zeichnungen von Alice Oseman zuvor auf Tumblr entdeckt hatten. „Die Story von Nick und Charlie wird dir gefallen“, meinte sie damals zu mir, „ist echt niedlich gezeichnet“. Sie erwähnte nebenbei, dass daraus auch eine TV-Serie werden würde, was mich neugierig machte. Und in der Tat, die herzzerreißende „Puppy Love“-Beziehung der beiden Schulkinder gefiel mir. So sehr, dass ich die weiteren Bände gleich hinterher kaufte. Dass daraus ein globales Phänomen werden würde, eine Supernova in Bezug auf Sichtbarkeit queerer Themen im Mainstream, hätte ich nie geglaubt.
„Wie schön wäre es, eine Mutter wie Colman zu haben, sie so liebevoll auf unser Coming-out reagiert hätte.“
Aber genau so kam es, als im April 2022 die acht Folgen der ersten Staffel bei Netflix veröffentlich wurden, mit Kit Connor und Joe Locke als Nick und Charlie sowie – unvergesslich – Oscar-Preisträgerin Olivia Colman als Nicks Mutter. Ich erinnere mich an die vielen Kommentare älterer schwuler Bekannter auf Facebook, die gerührt seufzten: „Hätten wir doch damals eine solche Serie gehabt, das hätte so geholfen,“ oder: „Wie schön wäre es, eine Mutter wie Colman zu haben, sie so liebevoll auf unser Coming-out reagiert hätte.“
Wenig Relevanz bei Jugendlichen?
Bei Jüngeren sei das Ganze jedoch kaum ein Thema, sagt Gesamtschullehrer Pascal zu SIEGESSÄULE: „Nur bei Mädchen“ beobachtet er gesteigerte Begeisterung. Die sind natürlich eine wichtige Zielgruppe, wie man aus dem Young-Adult-Markt weiß, wo solche Male-Male-Romances mit erhöhtem Cuteness-Faktor weggehen wie frisch geschnittenes Brot. Da treffen sich geschmacklich gesehen dann ausgerechnet ältere Schwule mit jungen Heterofrauen.
Dann gibt es aber auch andere, die sich derweil über die Cringe-Momente in der Serie bei TikTok & Co. lustig machen. Dabei wird oft verächtlich auf die Darstellung geblickt, dass die Charaktere Nick und Charlie solche Angst vor dem ersten Sex haben, dass sie diesen immer wieder verschieben.
Solche Debatten werden in den Schatten gestellt vom schieren Ausmaß des „Heartstopper“-Erfolgs. Als ich 2023 in London in einen Tesco-Supermarkt kam, standen gleich am Eingang sämtliche Osemann-Werke, auch ihre Romane, inklusive „Loveless“, wo die*der nicht-binäre Autor*in erzählt, wie eine junge Frau begreift, was es bedeutet (wie Oseman selbst) asexuell zu sein und warum sie sich mit solcher Hingabe Male-Male-Lovestorys ausdenkt. Kurz darauf war ich in Florida, in einer fundamentalistischen Gegend, wo sonst nie etwas Queeres anzutreffen ist. Dort entdeckte ich ausgerechnet bei Walmart ebenfalls die gesammelten Werke Osemans, auch die ältere „Nick and Charlie“-Novelle, wo man schon 2015 erfuhr, wie‘s mit den beiden ausgeht.
Ob die Bücher auch ein Verkaufsschlager beim LGBTIQ*-Publikum in Berlin sind? Jona von der Buchhandlung Eisenherz sagt zu SIEGESSÄULE, die Nachfrage sei begrenzt. Für jüngere Queers gelte „Netflix und gut“. Seine Kollegin Nancy ergänzt, dass sie „Sex Education“ sowieso viel besser finde. Dort würden mehr Fragen über queeres Leben gestellt und beantwortet werden. „Plus Gillian Anderson spielt mit, die fand ich schon zu Akte-X-Zeiten toll.“
Gillian Anderson hat gerade das Buch „Want: Sexuelle Fantasien der Frauen im 21. Jahrhundert“ als „Sammlung anonymer Stimmen“ herausgegeben, mit vielen lesbischen, bi, pan und nicht-binären Stimmen. Von der Themenvielfalt bei „Sex Education“ sei „Heartstopper“ weit entfernt, trotz der enormen Breite an sexuellen Identitäten, die vorkommen – inklusive und sehr prominent: Bisexualität.
Safer Space in „Wohlfühlwatte“
„Gerade die Darstellung von Bisexualität in ‚Heartstopper’ hat mein Leben positiv verändert und mir eine neue Perspektive eröffnet. Vorher dachte ich, dass queere Beziehungen grundsätzlich mit Schmerz zu tun hätten,“ sagt der*die nicht-binäre Bi+-Aktivist*in und studierte*r Politikwissenschaftler*in Johnnie gegenüber SIEGESSÄULE. „Als ich dann ‚Heartstopper‘ geschaut habe, dachte ich: das will ich so auch. Genau so.“ Nick sei eine zentrale Vorbildfigur, die einen liebevollen Umgang demonstriere und gleichzeitig selbst vulnerabel bleibe. Johnnie hat beeindruckt, „dass man so wie er mit seinen Gefühlen umgehen kann. Und darf.“
„Gerade die Darstellung von Bisexualität in ‚Heartstopper’ hat mein Leben positiv verändert und mir eine neue Perspektive eröffnet.“
Um selbst so ein Miteinander zu erleben, hat Johnnie beschlossen, anderen queeren Räumen eine Chance zu geben und wechselte vom Berghain ins SchwuZ. „Dort habe ich eine andere Queer Joy erlebt – ein Glück. Auch einen Stolz darauf, so zu sein, wie man ist. Darum geht es ja auch in Heartstopper.“
In der Serie würden laut Johnnie „warme Gefühle“ gezeigt und ein Safer Space entworfen. „Man schaut es an und fühlt sich safe. Es kann einem nichts passieren. Alles wird auf schöne Weise behandelt, selbst der Schmerz und Depressionen.“ Den Aspekt hat „Heartstopper“ durchaus gemein mit „Sex Education“, verpackt die Themen aber noch mehr in Wohlfühlwatte.
„Ich finde es beeindruckend, wie die Serienadaption so einen Impact und eine Öffentlichkeit für queere Themen erzeugen kann.“
Der Berliner Publikumsforscher Tillmann Triest sagt zu SIEGESSÄULE: „Ich finde es beeindruckend, wie die Serienadaption so einen Impact und eine Öffentlichkeit für queere Themen erzeugen kann, die nicht nur junge Menschen etwas angehen, sondern uns alle.“ Dass die Geschichte von einem Webcomic kommt, sei für Triest ein Beweis, „dass es sich immer wieder lohnt, die Augen offen zu halten, für andere Medien, Formen und Gattungen, die je mit ihren eigenen Mitteln zu bezaubern vermögen.“
Alte Probleme neu erzählt
Joachim Bartholomae vom Männerschwarmverlag ergänzt, dass für Coming-out- oder Coming-of-Age-Geschichten gelte, was schon Heinrich Heine schrieb: „Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu.“ Die Emotionalität der Beteiligten ändere sich von Generation zu Generation. „Deshalb werden die immer gleichen Probleme immer wieder neu und anders erlebt – und müssen eben auch immer wieder neu erzählt werden, damit die aktuelle Generation sich darin wiederfindet.“
Epochemachend für queere TV-Repräsentation sei seines Erachtens jedoch vor allem die britische Serie „Queer as Folk“. „Was danach kam, sind Neuerzählungen für spätere Generationen“, so Bartholomae. „Ich beobachte diese Neuerzählungen aus emanzipationsgeschichtlichem Interesse, persönlich gehöre ich sicher nicht zur Zielgruppe.“
Geht es um queere Literatur und Verfilmung, dann gehe es immer auch um Sichtbarkeit. Dabei solle man allerdings hinterfragen, was eigentlich sichtbar gemacht werde, findet Bartholomae: „Dass es LGBTIQ* gibt, hat sich inzwischen sogar in den Ländern rumgesprochen, die sie bekämpfen. Aber wer weiß eigentlich, was damit gemeint ist, wie der eine oder andere Buchstabe lebt oder liebt? Dass ausgerechnet eine Romance-Serie da Aufschluss geben könnte, halte ich für eine abwegige Idee.“
„Dass ausgerechnet eine Romance-Serie Aufschluss über queeres Leben geben könnte, halte ich für eine abwegige Idee.“
In jedem Fall läuft die PR-Maschinerie in Erwartung auf die 3. Staffel wieder auf Höchsttouren. Es gibt Karten und Kalender, T-Shirts und Tassen und Taschen als Merch. Ob’s eine Netflix-Staffel 4 geben wird, muss man abwarten. Die Gerüchteküche brodelt dazu. Das hängt sicher davon ab, wie viele Menschen sie ab dem 3. Oktober streamen.
Wollen wir als Community so „beschützt“ leben?
Im Kontrast zu diesem Hype wurden die „Heartstopper“-Bücher 2021 in der Türkei vom Familienministerium verboten. Auch aus Ungarn sorgten Zensurmaßnahmen und hohe Geldstrafen für einen ungarischen Verleger für Schlagzeilen. Und in mehreren US-Staaten wurden Osemans Graphic Novels jüngst aus Schulbibliotheken entfernt.
Queere Medien wiederum haben „Heartstopper“ zusammen mit „Sex Education“ und „Young Royals“ als „Heilige Dreifaltigkeit“ in Bezug auf die LGBTIQ*-Repräsentation in Serien bezeichnet. Ein kühner Claim.
Jona sagt, er habe sich gewundert, dass die Novelle mit dem Finale der Nick-und-Charlie-Beziehung (laut Oseman die Grundlage für eine potenzielle Staffel 4) ohne Trigger-Warnung erschienen sei, obwohl darin beschrieben wird, wie der Hund von Nick in seiner Abwesenheit von dessen Mutter eingeschläfert wird. „Das ohne Vorwarnung zu lesen, hätte viele meiner Freund*innen aus der Bahn geworfen.“
Das hat mich erstaunt: Sind junge Queers wirklich so empfindsam? Wie gehen sie dann mit der (anti-queeren) Gewalt um, die täglich in den Nachrichten und im Alltag zu finden ist? Und wollen wir als Community tatsächlich so „beschützt“ und von besagter „Wohlfühlwatte“ umgeben leben, wie es „Heartstopper“ als vermeintliche Utopie vorführt? Darüber lohnt es zu debattieren, besonders wenn das das Bild ist, das viele „da draußen“ jetzt dank Oseman von der LGBTIQ*-Community im Kopf haben.
Heartstopper, Staffel 3
UK 2024,
Regie: Andy Newbery.
Mit: Joe Locke, Kit Connor, William Gao, Yasmin Finney u.a.
Ab 03.10. auf Netflix
Alice Oseman: Heartstopper Vol. 5
Loewe-Verlag, 2023,
336 Seiten, 18 Euro
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