Exklusives Interview

Queere Gothic-Legende Anna-Varney Cantodea im Interview

19. Dez. 2025 Jan Noll
Bild: Sopor Aeternum
Anna-Varney Cantodea in einer Szene des imaginären Horrorfilms „The Dead Have Come" (1979)

Kürzlich veröffentlichte die queere Goth-Legende Anna-Varney Cantodea aka Sopor Aeternus & The Ensemble of Shadows gleich zwei neue Alben. Der Twist: Bei den Platten handelt es sich um Soundtracks zu zwei imaginären Horrorfilmen, in denen nur LGBTIQ*-Personen überleben. Wie Hetero-Männer versuchen, sich durch schwulen Sex zu retten, wieso Ratten und Queers mit Außerirdischen Orgien feiern und welche Rolle Drag in diesem Spektakel spielt, klärte Jan Noll im exklusiven Interview mit Anna-Varney Cantodea

In den letzten Monaten gibst du dich vor allem in deinem Blog als Privatperson nahbarer. Du gibst Einblicke in Alltäglichkeiten und die dunkle, artifizielle Welt von Sopor Aeternus & the Ensemble of Shadows wird menschlicher. Das wirkt, als wärest du in letzter Zeit im Einklang mit dir selbst. Kann das sein? Als dunkel-strahlende Lichtgestalt des queer-gotischen Untergrundes sind wir immer im Einklang mit unserem fabelhaften Selbst, das ist ja wohl mal klar … und nachdem wir diese Tatsache jetzt allen flugs wieder ins Gedächtnis zurückgerufen haben, können wir auch gerne im herkömmlichen Singular weitermachen.

Aus meiner Sicht waren die Handvoll Blogeinträge der letzten Monate eigentlich eher „erklärende Werbung“ für die beiden neuen Alben … und daß ich dabei dann auch irgendwie kurze Einblicke in Tante Varneys Leben gewährt habe, würde ich eher als „zufälliges Beiwerk“ beschreiben.

Ich empfinde es immer als frustrierend und grenzdebil, wenn ich – wie dieser Tage üblich – die „Leute“ ständig daran erinnern soll, dass es zum Beispiel einen neuen Tonträger gibt oder eine neue Veröffentlichung ansteht. Solcherart langweilige Notwendigkeiten liegen mir einfach nicht. Da ich aber bisweilen nicht gänzlich darum herumkomme – denn woher sollen’s die Leute wissen, wenn man’s ihnen nicht sagt – muss ich also jedesmal einen hoffentlich interessanten (Um-)Weg finden, der für mich so einigermaßen Sinn ergibt. Daher also diese quasi-anekdotischen und/oder erklärenden Blogeinträge zu Themen wie Filmmusiken oder physischen Medien und meine Beziehung zu selbigen. Andererseits hast Du aber schon recht: in früheren Jahren wäre solch eine Einblicke-gewährende Offenheit tatsächlich unpassend, ja sogar undenkbar gewesen. Von daher…

Gleichzeitig sind deine beiden neuen Alben „The Dead Have Come“ und „Dea Mutárion“ nun schon das zweite Album-Projekt, das sich textlich und konzeptuell auf den ersten Blick nicht mit dir selbst befasst. Die neuen Platten sind instrumental, die Lyrics des letzten Albums waren weitgehend die Spielregeln zu einem von Dir entworfenen Brettspiel. Bist du der Einblicke in dein Seelenleben überdrüssig? Das ist eine interessante Frage … und in gewisser Weise würde ich Dir zustimmen. Da die (mediale) Welt heutzutage derart „ich ich ich“-überflutet erscheint, widerstrebt es einem Teil von mir bisweilen tatsächlich, überhaupt noch irgendetwas von mir preiszugeben, da ich mir dabei wirklich fast schon lächerlich vorkomme.

Dummerweise sind/ist Anna-Varney Cantodea aber nun mal das Zentrum des SOPORischen Universums, und für mein eigenes „Seelenheil“ – und um zumindest halbwegs bei Verstand zu bleiben – ist es daher nach wie vor zwingend erforderlich, mich auch weiterhin unaufhörlich selbst zu analysieren, um dann den belastenden Dingen auf die ein oder andere Weise Ausdruck zu verleihen. Damit das Ganze vom künstlerischen Aspekt aber nicht langweilig (für mich) wird, und ich mich nicht wiederhole, ändert sich die äußere Form deshalb bisweilen. Der eigentliche Inhalt, die Intention, bleibt dabei aber immer gleich. Und dann kommt natürlich hinzu, daß ich mit SOPOR immer nur das mache, wonach mir gerade ist, und das lenkt die Dinge dann eben auch in bestimmte Bahnen.

Deine neuen Alben sind Soundtracks zu zwei imaginären Horrorfilmen. Wie kam die Idee zustande? Ich glaube, da muss ich in Bruchstücken antworten. Ursprünglich hatte ich im letzten Jahr eigentlich mit einem anderen, quasi „normalen“ Album beginnen wollen, aber irgendwie fand ich keinen Zugang dazu, der nicht furchtbar deprimierend gewesen wäre. Und ich rede jetzt nicht von einer „schwärmerischen Traurigkeit“, die letztendlich dann doch irgendwie aufbauend und/oder befreiend ist, sondern tatsächlich von einer zehrenden Negativität, die einfach nichts Gutes bringt … und diesen Weg wollte ich auf keinen Fall gehen.

Da ich aber, um nicht irre zu werden, dringend etwas Neues erschaffen musste – nach Möglichkeit etwas, das mir auch irgendwie „Freude“ (im weitesten Sinne) bereiten würde – entschied ich mich, stattdessen einen imaginären Zombiefilm aus den Siebzigern zu vertonen. Das Filmplakat hierzu hatte ich bereits zwei Jahre zuvor zusammen mit ein paar anderen Kinopostern und Aushangbildern mit Hilfe von generativer, künstlicher Intelligenz „einfach mal so“ gestaltet.

„Die Idee, für die aktuellen Alben Filmmusik im analog-pulsierenden Synthesizer-Stil eines trashigen Siebziger-/Achtzigerjahre Horrorstreifens zu schreiben, war dann sehr naheliegend.“

Ich mochte Fantastisches Kino und Science Fiction Filme schon von klein auf, und in den letzten 30 Jahren habe ich auch, was Tonträger betrifft, hauptsächlich Soundtracks gekauft und gehört. Deshalb war die Idee, für die aktuellen Alben Filmmusik im analog-pulsierenden Synthesizer-Stil eines trashigen Siebziger-/Achtzigerjahre Horrorstreifens zu schreiben, dann sehr naheliegend.

In sozialen Netzwerken wurde die Verwendung von KI für dein neues Artwork bereits kritisiert. Sei es im musikalischen Bereich, im Bereich von Grafik oder Illustration oder in die Fotografie – viele Künstler*innen fühlen sich von KI in ihrer Existenz bedroht, viele Rezipient*innen fühlen sich von ihr emotional betrogen. Wie stehst du zu diesem Thema? An sich habe ich kein Interesse an generativer KI. Für mich war/ist es irgendwie so ein Fall von „ja, kann man mal machen, aber dann ist es auch genug, brauch’ ich jetzt nicht nochmal“. Weiß Du, was ich meine? Andererseits, so rein theoretisch, als „Werkzeug“ – losgelöst von allem – kann ich es nicht völlig verteufeln, denn es ist in begrenztem Umfang, quasi situationsbedingt, durchaus möglich, damit wirkliche Kunst zu erschaffen. Ein wunderbares Beispiel hierfür wäre das (real bisher nicht existierende) Memory®-ähnliche Spiel „SPECTRE - Remember me, forget me not“ von SOPOR AETERNUS [nachzulesen im diesem Blogeintrag].

„Die Benutzung von (qualitativ schlechter) generativer KI war dabei nicht nur von essentieller Bedeutung und inhaltlich absolut schlüssig, sondern sogar zwingend erforderlich!“

Keine andere Person auf dieser Welt – niemand anderes als Anna-Varney Cantodea selbst – hätte dieses Spiel dergestalt konzipieren können … und die Benutzung von (qualitativ schlechter) generativer KI war dabei nicht nur von essentieller Bedeutung und inhaltlich absolut schlüssig, sondern sogar zwingend erforderlich! Allerdings war/ist es auch eine einmalige Sache, die sich (so) nicht wiederholen läßt … und wie bei den meisten Dingen kommt es auch hier wirklich auf den Kontext an.

„The Dead Have Come“ und „Dea Mutárion“ sind zwei wirklich klasse Soundtrack-Alben mit fabelhaftem Artwork … und die Einzigen, die vorab(!) wieder was zu meckern hatten, waren die üblichen Internet-Trolle und Berufsnörgler.

Wie es bei Soundtracks meist so üblich ist, ist die Musik instrumental. Dennoch haben viele Filme einen Titelsong, in dem gesungen wird. Warum hast du komplett auf Gesang verzichtet? Weil ich wirklich einen reinen, in gewisser Weise zeitlosen Soundtrack haben wollte, der nicht durch Text und/oder Stimme eingefärbt ist und dadurch limitiert wird. Ich wollte Musik für mich selbst haben, die ich – anders als bei vergangenen SOPOR-Alben – im Hintergrund laufen lassen kann, ohne dabei alles nochmal durchleben zu müßen und dann unweigerlich erneut die Krise zu bekommen. Ich wollte zum ersten Mal Musik aufnehmen, die ich später auf die gleiche Art und Weise hören und genießen kann, wie ich sonst die Musik anderen Leute wahrnehme. Quasi „neutral“, wenn Du verstehst, was ich meine.

Trotzdem klingen „The Dead Have Come“ und „Dea Mutárion“ nach wie vor unverkennbar nach SOPOR AETERNUS, was wirklich ungemein tröstlich ist. Ich empfinde die Musik tatsächlich als sehr beruhigend, sogar trostspendend. Aber das geht vielleicht nur mir so.

Die Handlung der beiden Filme wird in den Booklets umrissen und ist äußerst amüsant. Im ersten Film verwandelt ein Fernseh-Signal unbekannten Ursprungs Menschen in fleischfressende Zombies. Es stellt sich heraus, dass nur schwule Männer gegen das „Virus“ oder besser gesagt Phänomen immun sind. Heteros reagieren entweder mit der üblichen Verteufelung von Schwulen als Ursprung der „Seuche“ oder versuchen, sich mit schwulem Sex selbst zu retten. Ist diese Idee eine invertierte Allegorie auf die Aids-Epidemie oder einfach nur eine Art queerer Revenge-Porn? Beides spielt zwar irgendwie mit rein, aber … ganz ehrlich … es ist dann doch schon eher Letzteres. Wobei der Begriff „Rache“ jetzt vielleicht etwas überdimensioniert wäre. Aber, hey … Du weißt ja, wie’s ist.

Die Alien-Seuche bringt außerdem versteckt lebende Klemmhuschen dazu, endlich aus dem Schrank zu kommen. Zum Beispiel das zentrale Paar, die Bauarbeiter Hank und George. Die beiden gestehen sich vor dem Hintergrund der Ereignisse endlich ihre Liebe zueinander. Und natürlich – wie sehr schön im Booklet des Albums illustriert – auch das gegenseitige Begehren. Ist dieser Plot als eine Art schwuler Utopie gemeint oder fandest du das einfach nur sexy? Was genau ist für Dich dabei die „schwule Utopie“? Daß alle bösen Heten qualvoll-verwesend wegsterben? Hmm, ja … kann ich gut verstehen, daß das sexy ist. Aber ernsthaft, ein Queertopia – um hier mal spontan ein Wort zu schöpfen – der Freiheit und des gleichberechtigten Miteinanders aller aufgeklärten Wesen – ich sage mit Absicht jetzt nicht „Menschen“ – ist doch ein schöner Gedanke.

Zum Gedanken der „schwulen Utopie“ – ich verwende hier bewusst das Wort schwul, da der Fokus in „The Dead Have Come“ ausschließlich auf MSM (Männer, die Sex mit Männern haben, Anm. d. Red.) gelegt wird: Eine der Ursachen patriarchaler, cis männlicher Queerfeindlichkeit wird ja durchaus der Tatsache zugewiesen, dass „Männer“ (also die, die ihre Männlichkeit im maskulinistischen Alpha-Sinne verstehen) unfähig sind, ihre eigenen homosexuellen Anteile anzuerkennen, und entsprechend auf queere Personen mit Hass reagieren. Die Vorstellung, dass äußere Umstände dazu führen, dass eben diese Anteile anerkannt und zugelassen werden müssen, um zu überleben, hat ja das Potenzial, eine vollkommen neue Weltordnung zu schaffen, oder findest du nicht? Ah, ok … jetzt verstehe ich. Ich wußte erst nicht genau, worauf Du hinaus wolltest, da in der begrenzten Handlung des Films die „Rettung“ nicht so sehr durch eine psychologische Reorientierung geschieht, sondern eher magisch-spiritueller Natur ist. Wenn die Drag-Hexe Calvaria Belladonna an einer Stelle poetisch-geheimnisvoll verkündet, dass Sterne zwar verblassen und verlöschen mögen, doch niemals der Verwesung anheimfallen können, dann bezieht sie sich damit auf das innere, ewige Feenlicht all jener fabelhaften Geschöpfe, die bereits von Geburt an verzaubert sind.

Die bärigen Bauarbeiter Hank und George sind zwar rein phänotypisch schon der Inbegriff des heterosexuellen Kerls … waren dabei aber zu keiner Zeit von (Selbst-)Hass zerfressene Arschlöscher. Sie haben ihre Natur nie wirklich verleugnet oder abgelehnt, sondern hatten in der Vergangenheit einfach nur nicht den Mut, ihr Feenlicht erstrahlen zu lassen. Es war aber immer da, direkt unter der Oberfläche, still pulsierend … und man könnte deshalb fast sagen, dass die katalytische Seuche für die beiden bloß ein hey, jetzt-oder-nie Impulsgeber ist, sich endlich ein Herz zu fassen und für immer aus dem figurativen Schrank herauszutreten.

Andere haben im Film da weit weniger Glück, denn die bloße „Überwindung“, sich quasi gezwungenermaßen dem gleichgeschlechtlichen Akt hinzugeben, hilft ihnen rein gar nichts. Vom kompletten Irrsinn gewalttätiger Zwangs-Genitalhandlungen, in denen sich einige Gruppen von Männern ergehen, mal ganz zu schweigen. Aber um auf Deine Ausgangshypothese zurückzukommen … klar würde eine komplett neue Welt(-ordnung) entstehen, wenn es von heute auf morgen, quasi aus biologischen Gründen, nicht mehr möglich wäre, sich wie ein dummes Arschloch zu benehmen.

Bild: Sopor Aeternum
Die Double-Feature Box von Sopor Aeternus & The Ensemble of Shadows: „The Dead Have Come“

Neben Schwulen sind außerdem Ratten immun und bilden im Laufe der Handlung mit queeren Menschen eine Allianz. Diese geht im Sequel des imaginären Films so weit, dass die immer menschlicher werdenden Ratten anfangen, mit queeren Personen und sogar den plötzlich auftauchenden Aliens, die das ursprüngliche Zombie-Signal gesendet haben, rumzuvögeln. Schon irgendwie kinky. Erzähl mir doch bitte mal, was die Idee hinter diesem Handlungstwist ist. In gewisser Weise hat sich das „zufällig“ ergeben. Gleichzeitig spiegelt es aber auch meine eigene Einstellung zu diesem Thema wider. Hmm, wo fange ich am Besten an? Ok, vielleicht hier: „The Dead Have Come“ und „Dea Mutárion“ sind tonal sehr unterschiedlich, so wie man es öfter bei Achtzigerjahre-Fortsetzungen zu Filmen aus den Siebzigern beobachten konnte. „Blutgericht in Texas“ (Originaltitel: „The Texas Chain Saw Massacre“) ist hierfür ein wirklich gutes Beispiel. Das Original von 1974 ist ein Horrorschocker der jahrelang in Deutschland verboten war und dessen Indizierung erst im Jahre 2011 aufgehoben wurde – das muss man sich mal vorstellen! Die Fortsetzung von 1984 hingegen ist eine Horrorkomödie geworden, weil Tobe Hooper, der auch der Regisseur des Originals war, kein Interesse daran hatte, für das Studio dieselbe Art von Film noch einmal drehen zu müssen.

„The Dead Have Come“ (1979) und „Dea Mutárion“ (1982) stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander. Das Original aus den Siebzigern ist ein schockierender Zombiestreifen eines jungen, schwulen Regisseurs, der als Allegorie und schonungslose Abrechnung mit dem alles zersetzenden Krebsgeschwür der Heteronormativität zu verstehen ist – und nicht von ungefähr in 26 Ländern dieser Welt verboten wurde. Die an sich unnötige Fortsetzung „Dea Mutárion“ aus den frühen Achtzigern ist dagegen ein eher spielerisch-überzogenes Spektakel, bei dem alle vermeintlichen Regeln über Bord geworfen wurden, und der Regisseur Anus Varnus sich die Freiheit nahm, eventuelle Erwartungen des Studios gekonnt zu ignorieren. Gleichzeitig ist es aber auch (s)eine hoffnungsvolle Zukunftsvision, in der außerirdische Mutanten als Retter der Menschheit vom Himmel herabsteigen, um die Welt von Dummheit und Hass zu befreien, und infolge ein Zeitalter des aufgeklärten Miteinanders und der grenzauflösenden Liebe einleiten.

„Dass Schwule und mutierte Ratten dabei hingebungsvoll miteinander ficken, ist dann doch nur folgerichtig. Ich meine, schau Dir die heißen – um nicht zu sagen ,rattenscharfen‘ – Typen doch mal an!“

Dass Schwule und mutierte Ratten dabei hingebungsvoll miteinander ficken, ist dann doch nur folgerichtig. Ich meine, schau Dir die heißen – um nicht zu sagen „rattenscharfen“ – Typen doch mal an! Und das ist dann auch der Aspekt, von dem ich anfangs meinte, daß er sich „zufällig“ ergeben hat: Zu meiner eigenen Überraschung – wobei, soooo „überraschend“ war es dann auch wieder nicht – fand ich einige der Rattenmänner ästhetisch durchaus sehr ansprechend, was dann zu eben dieser sinnlichen Erweiterung der Handlung geführt hat.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf KI zurück kommen. Auch in der Pornografie bzw. in der erotischen Darstellung hat die KI gerade einen massiven Durchbruch. Immer mehr mit künstlicher Intelligenz generierte erotische/sexuelle Fotos fluten das Netz. Neulich las ich einen Kommentar unter einem solchen Fotopost, in dem die Person davon sprach, dass wir dabei sind, mit KI ein erotisches Ideal zu erschaffen, dass wir endgültig nie mehr selbst erreichen können. Die totale Entfremdung vom tatsächlichen menschlichen Körper. Kann es sein, dass Menschen sich auf (nicht nur) erotischer Ebene irgendwann selbst abschaffen Pornografie gibt es doch, glücklicherweise, wie Sand am Meer, weshalb mir die Vorstellung, es durch mittelmäßige KI zu ersetzen, erstmal reichlich schwachsinnig erscheint. Es sei denn, man würde etwas sehen wollen, das es im realen Leben nicht gibt, wie zum Beispiel … ach, keine Ahnung … schwuler Sex mit humanoiden Rattenmännern und gruseligen Weltraum-Mutanten vom Lebendigen Leichenplaneten Thanatória. Aber abgesehen davon … pffff

Wie würdest du deine Beziehung zum menschlichen Körper beschreiben? Ha! Da fragst Du die Richtige! Als komplett asexuelle Transe ist mein Blick auf den menschlichen Körper im besten Falle einer des Mitleids. Und das auch nur an guten Tagen.

„Und, nur so nebenbei … für alle, die’s bisher noch nicht mitbekommen haben: Goth ist letztendlich auch nichts anderes als Drag. Deshalb, ja! Kunst/Drag als heilende Kraft? Absolut!“

Zurück zum Film: Der einzige Safe Space in der von Zombies geschüttelten Welt ist der Drag-Nachtclub „The Beautiful Morgue“. Drag fungiert hier also als Zuflucht – das erinnert mich an die Aussagen vieler Drag-Künstler*innen, dass Drag ihr Leben gerettet habe. Glaubst du an die heilige Superkraft von Drag? Ja, absolut. Zu tausend Prozent. Wobei ich den Begriff „Drag“ auf „Kunst“ erweitern würde. Bei SOPOR war/ist das ja nicht anders. Hätte ich nicht die Möglichkeit gabt, mich durch Kunst zu „verwirklichen“, dann hätte ich mich wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten umgebracht. Im Gegensatz zu schillernden Travestiekünstler*innen hatte/habe ich mich bei dem Balanceakt meines Heilungsversuchs allerdings nicht in glitzernde Gewänder, sondern in Symbole des Todes gehüllt und den Mantel der Hässlichkeit für den „Tanz der Grausamkeit“ zu meinem Stilmittel erwählt. Etwas Anderes kam für mich nicht in Frage, da Kunst und Wirklichkeit ein und dasselbe sind, oder nach meinem Verständnis sein sollten, beziehungsweise sich entsprechen und gegenseitig beeinflussen: „Wie im Innern, so auch im Außen - wie oben, so auch unten.“ Und, nur so nebenbei … für alle, die’s bisher noch nicht mitbekommen haben: Goth ist letztendlich auch nichts anderes als Drag. Deshalb, ja! Kunst/Drag als heilende Kraft? Absolut!

Beim Thema Goth und Drag stimme ich dir komplett zu. Das Auflösen von Geschlechtergrenzen war ja ursprünglich auch ein wesentlicher Bestandteil der Goth-Kultur. Im breiten Mainstream dieser ehemaligen Subkultur (selbstverständlich gibt es daneben noch einen sehr queeren und lebendigen Wave-Underground, der sich aber kaum noch mit dem Wort „Goth“ identifiziert) kann man allerdings in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Hetero-Normierung beobachten. Binäre Geschlechterbilder werden eher zementiert als aufgelöst. Beobachtest du das ebenso und woran könnte das liegen? An der zunehmenden Vermischung mit der Metal-Szene? Witzigerweise hatte ich gerade letzte Woche den Film „Underworld“ von 2003 nochmal geschaut, und als mich mittendrin ein Freund per Textnachricht fragte, was ich denn gerade machen würde, war meine Antwort, dass ich den Film schaue, der das Schicksal der ehemals gruftigen Subkultur endgültig besiegelt hat, von nun an nichts weiter als peinlicher Kinderfasching für Poser und Modepüppchen zu sein. Vielleicht war das etwas harsch formuliert, aber letztendlich stimmt es doch. Und ist es nicht generell so, dass allen Dingen, die von Mainstream erfasst werden, das gleiche Schicksal der kommerziellen Verwässerung und Gleichmacherei droht? Da könnte man sich fragen, ob es deshalb nicht vielleicht besser wäre, lieber gleich für alle Zeit im Untergrund zu bleiben? Andererseits ist in der Stille des Grabes nicht viel los und Weiterentwicklung gibt es auch keine, weshalb sich die Katze am Ende dann wohl doch wieder in den Schwanz beißt. Vielleicht hat wirklich alles seine Zeit und ist dann irgendwann einfach vorbei. — Ich weiß es nicht.

Wie würdest du dein derzeitiges Verhältnis zur heteronormativen Mehrheitsgesellschaft beschreiben? Ich kann nicht vergessen, zu welch schrecklichen Grausamkeit die geisteskranken Anhänger der heteronormativen Doktrin fähig sind, und daher würde ich mein Verhältnis zur Mehrheit der Gesellschaft (und zu Menschen in Allgemeinen) als eher misstrauisch bezeichnen.

In die Auslaufrille der Schallplatten hast du relativ süffisant folgende Aussagen platziert: „Only the queers are immune!“ und „Step aside, breeders!“. Außerdem gibt es einen Blog-Eintrag von dir mit dem Titel „Only Homosexuality can save you now!“. Also mir verschaffen diese Aussagen vor dem Hintergrund wachsender Queerfeindlichkeit in Politik und Gesellschaft eine gewisse Genugtuung. Dir auch?Ja, so geht es mir auch. Die beiden Alben kann man daher auch als meine Version des bekannten Ausdrucks „Herr, schmeiß’ Hirn vom Himmel!“ verstehen, als den verzweifelten Wunsch nach einer Heilung der Welt. — Heil, Satan.

Sopor Aeternus & The Ensemble of Shadows
„The Dead Have Come“ und „Dea Mutárion“
(Original Motion Picture Soundtracks, Apocalyptic Vision)
soporaeternus.de

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