Nicht binäre Gothic-Ikone Anna-Varney Cantodea im Interview

„Satanisch-queere Inklusion“: Sopor Aeternus & the Ensemble of Shadows

23. Feb. 2024 Jan Noll
Bild: Sopor Aeternus & the Ensemble of Shadows

Die nicht binäre Gothic-Ikone Anna-Varney Cantodea alias Sopor Aeternus & the Ensemble of Shadows veröffentlichte gerade das umfangreichste Werk ihrer 35-jährigen Karriere. Ganze zwei Alben und zwei dazugehörige EPs umfasst ihr Opus, in dessen Zentrum neben dem Hauptalbum „Alone at Sam‘s“ ein eigens kreiertes Brettspiel steht. Richtig, ein Sopor-Aeternus-Brettspiel. Im exklusiven Interview mit Siegessäule spricht Anna-Varney über das künstlerische Mammutprojekt, ihre Kindheit und Sopor-Aeternus-Action-Figuren

Liebe*r Anna-Varney, ich weiß, du wirst mir vermutlich sofort widersprechen, aber dein neues, relativ episches Werk hat auf den ersten Blick (textlich) sehr wenig mit dir persönlich zu tun. Kann das sein?

Ja, auf den ersten Blick kann das für die meisten Hörer tatsächlich den Anschein haben.

Du erzählst auf deinem Blog, dass das neue Werk etwas anders sei, als deine üblichen, schmerzerfüllten Werke. Was genau ist denn anders daran?

Ich empfinde den aktuellen Zyklus einfach als weniger traurig. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Zumindest wollte ich diesmal kein bewußt trauriges Album machen. Es geht zwar thematisch um das Alleinsein, aber es ist keine lähmende Einsamkeit, sondern eher eine Wertschätzungen des Alleinseins. Im Englischen würde ich es vielleicht als „A Celebration of Aloneness“ formulieren. Im Deutschen dann halt großkotzig als „Ode an die Einsamkeit“, wenn es denn unbedingt sein muss. Aber was das Album letztendlich wirklich sagen will, ist einfach, daß es völlig OK ist, wenn Du keine (lebenden, menschlichen) Freunde hast, und auch nie welche hattest. Dadurch bist Du genauso viel Wert, und Dein Leben kann auch ebenso „erfüllt“ sein (wenn nicht sogar mehr), wie das der Masse. Es ist mitunter halt einfach nur …anders. Vielleicht weil Du einfach anders bist. Aber das ist auch gut so.

Im Zentrum des Werks steht ein Brettspiel, das es auch tatsächlich zu kaufen gibt. Du hast offenbar eine besondere Beziehung zu Spielen und Spielzeug – neulich hast du z. B. auf deinem Blog einen Text über deine Kinderspielzeuge veröffentlicht. Geht es bei der Beschäftigung mit Kinderspielzeug im Grunde um eine Auseinandersetzung mit (d)einer (vielleicht nicht ganz so schönen?) Kindheit?

In gewisser Weise schon, ja. Zumindest auch. Es gibt dabei aber einen bedeutenden Unterschied zwischen (Brett-)Spielen und Spielzeug. Spiele waren irgendwie immer ein unerfreuliches „Gruppending“, bei dem man Zeit mit Menschen verbringen mußte, die man nicht wirklich mochte, und wo es auf die eine oder andere Art immer boshaft und gehässig zuging. Spielzeug hingegen diente der Selbstbeschäftigung, allein in der Stille und Sicherheit des eigenen Kinderzimmers.

Im Zuge des aktuellen Albums habe ich einige der damals verhassten, alten Spiele uminterpretiert, die Regeln dabei teilweise auf den Kopf gestellt und aus (hetero-)normativem Übel, wundervoll satanisch-queere Inklusion gezaubert.

„Aber weil viele dem Begriff ,queer' nach wie vor ablehnend gegenüber stehen, ist das für mich nur ein weiterer Grund, an diesem Wort festzuhalten."

Du bezeichnest das Spiel „Alone at Sam‘s“ als „fabulously queer“. Abgesehen davon, dass die als „Homo“ bezeichneten, lilafarbenen Figuren immer beginnen dürfen – was ist queer an diesem Spiel?

Die lilafarbenen Figuren heißen „The Fabulous“. Es ist lediglich deren Ausgangsfeld, das den Titel „Homo“ trägt. Da es sich bei „Alone at Sam’s“ um mein Spiel handelt, ist einfach ALLES daran queer! Das ist ja wohl mal klar! ;) Und darum ging es mir eigentlich auch hauptsächlich, nämlich unmissverständlich deutlich zu machen, daß bei SOPOR immer (!) Verzauberung am Werke ist, selbst wenn wie hier das Spiel im Grunde nichts weiter als eine abgewandelte Version von Pachisi ist. Aber weil viele dem Begriff „queer“ nach wie vor ablehnend gegenüber stehen, und allein wegen diesem einen Wort das Spiel niemals kaufen würden (auch wenn sie ansonsten vielleicht voll auf Brettspiele stehen), so ist das für mich nur ein weiterer Grund, an diesem Wort festzuhalten und alles rosa einzufärben. Wenn ich dadurch meine Verkaufschancen also von vorneherein sabotiere, dann ist das halt so. Aber das war ja bei SOPOR noch nie anders. Die Meisten wurden schon immer von der „Verpackung“ abgeschreckt und kamen nie in das Glück, zu erleben, wie unerwartet wundervoll der Inhalt in Wahrheit ist. Und auch „Alone at Sam’s“ ist wieder wahrlich fabelhaftigste Musik. :)

Im Spiel gibt es ein Feld mit dem Namen „The House of POE“, das du quasi als Safe Space für die Queeren, Seltsamen und Bizarren beschreibst. Da du ein großer Fan von Edgar Allan Poe bist, nehme ich an, dass sich der Titel auf ihn bezieht. Soweit ich weiß, war nichts wirklich queer an Poe – oder sollte ich lieber nochmal nachlesen?

„The House of POE“ bezieht sich nicht wirklich auf Edgar Allan Poe. Sein Name steht einfach nur stellvertretend für einen fantastischen Ort der dunklen Geborgenheit, an dem es sicher und wundervoll ist, allein und/oder „anders“ zu sein.

Wenn man sich die Spielregeln bzw. die Texte auf „The Rules“ anschaut, fällt auf, dass du ein Figurenpärchen, das unter bestimmten Bedingungen die Spielenden blockiert und für eine bestimmte Zeit nur noch zu zweit bewegt werden kann, als „The Great Annoyance“ bezeichnest. Deine Abrechnung mit normativen Zweierbeziehungen?

Oh, gut. Ich hatte schon befürchtet, ich wäre wieder zu subtil gewesen.

Ich bin jetzt mal sassy: Neben der Band Kiss bist du sicherlich die Merch-Queen der Popkultur. Es gibt Sopor Duftbäume, Sopor Glückskekse, Sopor Weihrauch, Sopor Hostien, Buttons, Patches, Pins etc. Was kickt dich an solchen Gimmicks und wann kommt der Sopor-Flipperautomat?

Wer braucht denn bitte einen verfickten Flipperautomaten?! Laß uns lieber über SOPOR-Actionfiguren reden! ;) Aber ernsthaft … (wobei ich, nebenbei bemerkt, schon finde, daß die Welt dringend ein paar Anna-Varney Actionfiguren braucht … – und mit „Welt“ meine ich natürlich in erster Linie mich selbst!) … welches „Merch“ denn bitte? Es gibt von SOPOR weder Tassen, noch Lanyards, auch keine Mützen, Feuerzeuge oder sonst welche typischen Merch-Artikel. Es gibt bloß die gelegentlichen T-Shirts, und davon auch immer nur so viele, wie tatsächlich (vor-)bestellt werden. Und das war’s. Alles andere sind liebevolle Kleinigkeiten, die immer in direktem Zusammenhang mit einer Album-Veröffentlichung stehen. Die Hostien, beispielsweise, gehören zu „Es reiten die Toten so schnell“ und der Weihrauch zu „Have you seen this Ghost?“. Lediglich die schwarzen Glückskekse und die Leichenduft-Anhänger könnte man vielleicht als „frivol“ bezeichnen, aber auch die waren etwas Einmaliges, das SOPOR zum 30-jährigen Jubiläum der ersten musikalischen Veröffentlichung gemacht hat.

Seit vielen Jahren bleibst du musikalisch deiner Instrumentierung relativ treu. Diese besteht bis auf hin und wieder verwendeten elektronischen Sounds vor allem aus Glocken, Hackbrett/Hemmaleia, Bass, Schlagzeug, Streichern und Bläsern. Wie kommt es zu dieser langanhaltenden Beziehung?

Diese Frage habe ich in ähnlicher Form schon öfters gehört, und ich wundere mich dann bisweilen, wie es kommt, daß keine Rockband der Welt (als Beispiel) jemals gefragt wurde, warum deren Musik ausschließlich aus Bass, Gitarre(n), Schlagzeug und Gesang besteht … aber SOPOR sich fast schon dafür rechtfertigen muß, daß ich in meiner Musik immer „das gleiche“ wunderbare, kleine Orchester an vielfältigen Instrumenten verwende. Ist das nicht irgendwie albern? Aber um Deine Frage zu beantworten, ich kann nun mal nur die Musik machen, die ich auch mag. Ich muß mich selbst darin wohlfühlen können. Und da brauche ich einfach die üblichen Verdächtigen. SOPOR ist ein eigenes, musikalisches Universum, das man (hoffentlich) immer sofort wiedererkennt. Es ist zwar alles jedesmal neu, aber gleichzeitig bleibt es sich selbst auch immer treu. (Da, das hat sich gereimt … das heißt, es ist die Wahrheit). Abgesehen davon gehören nun mal in jedes ordentliche Stück Glocken. Das ist einfach so.

Bisher habe ich dich immer als trans Frau identifiziert, obwohl du bereits in „Drama der Geschlechtslosigkeit“ auf deinem 1995er-Album „Todeswunsch“ gesungen hast „bin weder Mann noch bin ich Frau“ – mal ganz abgesehen von deinem männlich-weiblich konnotierten Doppelnamen Anna-Varney. Auf deiner Bandcamp-Seite taucht der Begriff nicht binär auf, im Intro von „Alone at Sam‘s“ sprichst du von dir als „we“ – Würdest du dich also mehr als nicht binäre Person denn als Frau betrachten?

Ja, ich habe mich schon immer als nicht binär empfunden, auch wenn ich als Kind dafür natürlich keinen Begriff hatte. Ich wußte einfach nie, was ich antworten sollte, wenn ich gefragt wurde, ob ich ein Junge oder ein Mädchen sei (was ständig vorkam). Die Frage ergab für mich einfach keinen Sinn. Und bis heute lautet meine Antwort einfach: „Wir sind Anna-Varney“. Damals waren Worte wie „non binary“ auch noch nicht in Gebrauch. Wir hatten lediglich das unsägliche „transsexuell“, und später dann „transgender“. Letzteres finde ich für mich auch heute noch durchaus passend, da ich „trans“ immer im Sinne von „beyond“ verstanden habe. Also jenseits der Geschlechterrollen.

„Wenn Du unsicher bist, wie Du eine Person anreden sollst, dann frag’ einfach höflich. Und danach hast du zwei Möglichkeiten: Du kannst dem entweder respektvoll entsprechen und die Person mit der korrekten Anrede glücklich machen … oder Du kannst Dich wie ein dummes Arschloch benehmen. Die Entscheidung liegt bei Dir."

Wie stehst du generell zum derzeit durch die Medien getriebenen Thema der Pronomen und der gendergerechten Sprache?

Ich habe keinen Fernseher und ich verfolge auch keine Medien. Das Bißchen, das ich gelegentlich am Rande mitbekomme, geschieht lediglich durch zufällige „Osmose“. Ich weiß daher ehrlich gesagt auch nicht, was genau mit „gendergerechter Sprache“ gemeint sein soll. Früher hieß es zum Beispiel „Schüler und Schülerinnen“. Daraus wurde dann „Schülerinnen und Schüler“ (wie fortschrittlich!), welches irgendwann zu „Schüler/-innen“ verkürzt wurde, aus welchem dann wiederum das witzig-feministische „SchülerInnen“ mit dem großen, phallischen „I“ hervorging (was für viele schon schwer verdaulich war). Und jetzt schreibt man es, glaube ich, „Schüler*innen“. Ich weiß nicht, wo genau hier das Problem liegt. Es ist doch alles verständlich. Soll es doch einfach jede/r so machen, wie es individuell am leichtesten von der Hand geht.

Was die persönlichen Pronomen angeht, so ist es auch hier ganz einfach: Wenn Du nicht weißt, wie Du über eine Person sprechen sollst, dann verwende einfach deren Namen. Dafür ist dieser schließlich da. Und wenn Du unsicher bist, wie Du eine Person anreden sollst, dann frag’ einfach höflich. Und danach hast du zwei Möglichkeiten: Du kannst dem entweder respektvoll entsprechen und die Person mit der korrekten Anrede glücklich machen … oder Du kannst Dich wie ein dummes Arschloch benehmen. Die Entscheidung liegt bei Dir.

Ich hatte vor Kurzem eine Unterhaltung mit einem (als hetero „durchgehenden“) schwulen Bekannten, der mich nach sage und schreibe elf Jahren plötzlich fragte, was denn meine Pronomen seien. Mein spontaner Gedanke war: Was soll das denn jetzt? Du fragst doch bloß, weil Du das irgendwo gelesen hast! Aber dann dachte ich mir … hey, wenigstens fragt er, besser spät als nie … und erklärte ihm, daß unsere Pronomen schon seit jeher wir sind (von wegen „Wir sind Anna-Varney“), daß ich dies im alltäglichen Sprachgebrauch aber nur benutze, wenn ich mich jemandem vorstelle – quasi um einmal klarzumachen, was Sache ist –, um dann, wenn ich fortfahre, etwas zu erzählen, in die herkömmliche „Ich“-Form wechsle. Alles andere macht die Kommunikation bloß unnötig verwirrend.

Ich wiederhole mich aber auch nur ungerne, und Allgemeinen überlasse ich es den Leuten selbst (nachdem ich mich ihnen vorgestellt habe), zu entscheiden, wie sie mich ansprechen wollen. Allerdings werden sie von mir dann auch entsprechend beurteilt.

Im Zuge der anhaltenden Debatten um das Selbstbestimmungsgesetz wird immer wieder von reaktionären Kräften davor „gewarnt“, Jugendlichen zu früh das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung zuzusprechen. Ich nehme jetzt einfach mal frech an, dass du als „Junge“ erzogen worden bist. Welchen Einfluss hatte das auf deine Persönlichkeitsbildung und Psyche und wie stehst du vor diesem Hintergrund zur Frage der geschlechtlichen Selbstbestimmung bei Kindern und Jugendlichen?

Ich vermute mal, daß diese „Debatte“ zum Großteil wieder von Leuten geführt wird, die es nicht mal betrifft und die auch keine Ahnung haben. Ich kann Dir nur sagen, daß ich schon im Kindergarten wußte, was ich bin. Das Grausame dabei war nur, daß es für mich keinerlei Vorbilder gab. Da waren nur Mann und Frau und sonst nichts, und so siehst Du für Dich keine Zukunft, weil eine Mutation wie Du im Leben überhaupt nicht vorzukommen scheint. Du bist wie ein zart-strahlendes, außerirdisches Wesen, das auf einen barbarischen Gewaltplaneten ausgesetzt wurde, der ausschließlich von primitiven Kannibalen-Affen bevölkert ist, und Du existierst ständig in der berechtigten Angst, von dem dreckigen Mob in Stücke gerissen zu werden. Und dann setzt irgendwann auch noch die Pubertät ein, und von da an wird es erst so richtig beschissen.

Mitfühlende Eltern hätten bestimmt einen großen Unterschied gemacht, aber in meinem Fall gab es nur Schläge. Ich kann dies letztendlich aber nicht (mehr) beweinen, da all das mich zu der wunderbaren Göttin und dunklen Lichtgestalt des gotischen Undergrounds gemacht hat, die ich heute bin. Und ohne den Schmerz würde es SOPOR auch nicht geben, und die Welt wäre um all die zauberisch-fabelhafte Musik gebracht worden.

Nicht auszudenken, was gesehen wäre, hätte es so etwas wie Offenheit, Aufgeklärtheit, liebevolle Akzeptanz und – Gott bewahre – geschlechtliche Selbstbestimmung gegeben. Ich hätte mich womöglich von einem glücklichen Kind zu einem glücklichen erwachsenen Menschen entwickelt. Was für ein schrecklicher Gedanke.

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